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»Soziale und menschenrechtliche Lage in der Türkei wird immer besorgniserregender«

Im Wortlaut,

Öffentliche Anhörung »Quo vadis Türkei?« der Fraktion DIE LINKE

 

Von Margret Geitner

„Was wir gegenwärtig in der Türkei erleben, sind immer größere Repressionen und undemokratische Strukturen, während zugleich die Rolle des Landes nach außen immer bedeutender wird“. Mit diesen Worten leitete der Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi eine Anhörung zum Thema „Quo vadis Türkei? Menschenrechte und Demokratie oder imperiale Großmachtpolitik?“ ein. Auf Einladung der Fraktion Die Linke beleuchteten fünf aus der Türkei eingeladene Expertinnen und Experten aus Politik, Zivilgesellschaft und Gewerkschaften die aktuelle soziale, politische und menschenrechtliche Situation in der Türkei. Mit mehr als 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern traf das Thema offensichtlich auf großes Interesse. Zum ersten Mal gab es in Deutschland eine derartig umfassende Anhörung mit Vertreterinnen und Vertretern der Journalistengewerkschaft TGS, der Alevitischen Gemeinde, einem fraktionslosen Abgeordneten des Wahlbündnisses Arbeit, Freiheit und Demokratie, der Nahrungsmittelgewerkschaft Tek Gida Is und der  BDP.

Nach zehn Jahren Regierungszeit der AKP scheint die Türkei – so ist zumindest häufig die europäische Sicht – auf dem Weg in die Demokratie zu sein. Die bei der Anhörung aufgezeigte Wirklichkeit in der Türkei stellt sich aber sehr anders dar. „Die soziale und menschenrechtliche Lage in der Türkei wird immer besorgniserregender. Wir wollten mit dieser Anhörung ein Bewusstsein hierfür auch in Deutschland schaffen“, erklärte Sevim Dağdelen (MdB), Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion und stellvertretende Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe, in ihrem Einleitungsbeitrag.

In der von Katrin Werner (MdB), Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, moderierten Anhörung betrachteten die Referentinnen und Referenten die aktuelle Lage in der Türkei von zahlreichen unterschiedlichen Blickwinkeln: Sultan Özer von der Journalistengewerkschaft der Türkei (TGS) berichtete über die zum Teil massive Einschränkung der Meinungsfreiheit und klagte an, dass gegenwärtig mehr als 100 Journalistinnen und Journalisten allein wegen der Ausübung ihrer Tätigkeit in türkischen Gefängnissen einsitzen. Ercan Geçmez, Vorsitzender der Alevitischen Gemeinde, wies darauf hin, dass bis heute die Aleviten in der Türkei nicht als religiöse Minderheit anerkannt sind, alevitische Kinder weiterhin an sunnitischem Religionsunterricht teilnehmen müssen – und das obwohl auch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in einem jüngst gesprochenen Urteil die Türkei aufforderte, die Rechte der alevitischen Minderheit zu gewährleisten. Bis zu zehn Jahre kann in der Türkei Untersuchungshaft dauern, wenn die Anklage mit den Anti-Terror-Gesetzen begründet wird, kritisierte Levent Tüzel, fraktionsloser Abgeordneter des Wahlbündnisses »Arbeit, Freiheit und Demokratie« in der türkischen Nationalversammlung. Immer mehr politisch aktive Jugendliche und Studierende werden heute mit dieser Begründung inhaftiert und müssen oft Jahre auf ihre Prozesse warten. Trotz Wirtschaftswachstum geht die soziale Schere immer weiter auseinander. Mustafa Türkel, Vorsitzender der Nahrungsmittelgewerkschaft Tek Gida Is, berichtete, dass immer mehr Gewerkschafter aufgrund ihrer politischen Tätigkeit entlassen werden, während zugleich die Regierung immer neue die Gesetze erlässt, die die Gewerkschaftsrechte einschränken. „Die Türkei befindet sich nicht auf einem guten Weg“, so leitete Selahattin Demirtaş, Vorsitzender der Partei und Fraktion »Frieden und Demokratie« (BDP) in der türkischen Nationalversammlung seinen Vortrag ein. Kurdische Kinder in der Türkei bekommen bis heute keinen Schulunterricht in ihrer Muttersprache, die Rechte der Kurdinnen und Kurden in der Türkei werden nicht gewahrt. Die Menschen in der Türkei brauchen Gleichberechtigung, Gerechtigkeit und Frieden; das Land benötigt hier dringend einen Dialog, führte er aus.

Immer wieder angesprochen wurde die Frage der Mitgliedschaft der Türkei in der EU. Während allenthalben grundsätzliche Einigkeit darüber bestand, eine Mitgliedschaft gutzuheißen, gab es spannende Diskussionen darüber, ob in Anbetracht der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen und undemokratischen Strukturen die EU die Beitrittsverhandlungen abbrechen sollte, um damit Druck auf die türkische Regierung auszuüben.

„Die EU muss die Blockade und das Schweigen über die undemokratischen Zustände in der Türkei endlich beenden“, forderte Andrej Hunko  (MdB), Mitglied der parlamentarischen Versammlung des Europarates, in seinem Abschlussstatement. Er wird in der kommenden Woche in die Türkei fahren, um drei der neun inhaftierten Abgeordneten aus der türkischen Nationalversammlung zu besuchen und gegen die Nicht-Achtung ihrer Immunität als gewählte Abgeordnete zu protestieren.

linksfraktion.de, 30. März 2012