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Solidarische Alternativen gegen eine Politik der Spaltung

Im Wortlaut von Pia Zimmermann,


Von Pia Zimmermann, pflegepolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

 

Wenn derzeit auch verschiedene UnionspolitikerInnen angesichts der in Deutschland ankommenden Menschen von „Grenzen der Zumutbarkeit“ sprechen, ist das schäbiger Populismus und politischer Unfug zugleich. Was tatsächlich an Grenzen stößt, ist ein Sozialstaat, der durch die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte das „Sozial“ im Namen immer weniger verdient. Dies offenbart sich besonders drastisch in dem groben Staatsversagen bei der Unterbringung, Versorgung und Förderung der Menschen, die vor Krieg, Verfolgung oder Armut fliehen müssen, die sich eine bessere und sichere Lebensperspektive für sich und ihre Familien in Deutschland erhoffen. Dass dieses Versagen nicht noch viel deutlicher zu Tage tritt, ist der gelebten Solidarität vieler tausender Menschen zu verdanken, die tagtäglich für eine wenigstens ansatzweise würdevolle Behandlung der Geflüchteten kämpfen.

Die Folgen des Sozialstaatabbaus und der Ökonomisierung des Sozialen zeigen sich weniger drastisch, aber permanent im Alltag von immer mehr Menschen: In der Schlange beim Jobcenter, in steigenden Zusatzbeiträgen zur Krankenversicherung, bei der Suche nach bezahlbarem Wohnraum, auf bürokratischen Verschiebebahnhöfen bei Leistungsentscheidungen, wenn gesellschaftliche Teilhabe vom Geldbeutel abhängt. Sie zeigen sich besonders drastisch im Krankenhaus und im Pflegeheim, wo die Pflegekräfte gerade mal Zeit für das Nötigste haben. Hier sind die Grenzen der Zumutbarkeit schon lange Überschritten – verursacht durch die neoliberale Agenda sämtlicher Regierungsparteien der letzten Jahre.

In einer Atmosphäre, in der nur noch Nützlichkeit und Profitabilität zählt, werden verschiedene Gruppen gegeneinander ausgespielt, unter dem Credo einer angeblichen Alternativlosigkeit, weil die finanziellen Mittel begrenzt seien: „Mehr Personal in der Pflege erhöht die Beiträge für die Versicherten“, „wegen der Flüchtlinge muss an anderen Stellen gespart werden“, „höhere Renten belasten die nächsten Generationen“. Diese Politik ist aber nicht alternativlos. Die Zumutungen sind Ergebnis einer Politik, die den gesellschaftlich produzierten Reichtum ungerecht verteilt: zugunsten einiger weniger und auf Kosten der Vielen. DIE LINKE streitet seit Jahren für eine gerechte, für eine solidarische Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, insbesondere für jene, die als Kostenfaktor zunehmend ausgegrenzt werden, wie Menschen mit Behinderungen, ältere oder chronisch kranke Menschen mit Pflegebedarf.

Unterfinanzierung und Ökonomisierung der Pflege als Zumutung

Die Pflegeversicherung wurde 1994 unter Schwarz-Gelb unter neoliberalen Vorzeichen eingeführt: gedeckelte Versicherungsleistungen, Privatisierung der Verantwortung und Schaffung eines privaten „Pflegemarktes“. Gleichzeitig hat sich der Staat von Anfang an aus der pflegerischen Versorgung herausgezogen und den Wettbewerb durch den Vorrang von privaten und freigemeinnützigen Trägern vor öffentlichen Trägern angeheizt.

In der Lebensrealität vieler Menschen zeigt sich die Unterfinanzierung und Ökonomisierung der Pflege als Zumutung: Personen mit Pflegebedarf werden versorgt, aber nicht gepflegt – von gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten ganz zu schweigen. Pflegekräfte müssen im Minutentakt von Mensch zu Mensch hetzen und bekommen dafür viel zu niedrige Löhne. Ehefrauen, Partnerinnen, Schwiegersöhne und Kinder müssen für die Pflege ihrer Angehörigen ihren eigenen Beruf reduzieren oder ganz aufgeben, weil es anders kaum zu schaffen ist.

Profiteure sind dagegen Vermögende und die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Erstere werden dadurch, dass ein großer Anteil ihrer Einkommen aus Kapitalvermögen nicht verbeitragt wird, geschont und durch die Beitragsbemessungsgrenze kaum in die Pflicht genommen. Die Arbeitgeber beteiligen sich in der Pflegeversicherung mit einem de facto deutlich geringeren Anteil als in allen anderen Sozialversicherungszweigen.

Diese soziale Ungerechtigkeit ist für DIE LINKE nicht hinnehmbar. Ein grundsätzliches Umdenken ist notwendig: Die pflegerische Versorgung muss ausgehend von den Bedürfnissen der Menschen mit Pflegebedarf organisiert werden und darf nicht länger zugunsten einiger weniger Reicher und der Arbeitgeber der Kostendeckelung untergeordnet werden.

Die herrschende Politik ist die Ursache der sozialen Schieflage

Die finanziellen Mittel sind da: Eine Pflegevollversicherung, die solidarisch finanziert wird, nimmt niemanden aus der Verantwortung, sondern verteilt diese einfach nur gerecht. Alle – auch die privat Versicherten – werden einbezogen und sämtliche Einkommen berücksichtigt. Reiche zahlen künftig prozentual den gleichen Beitragssatz: Die Beitragsbemessungsgrenze wird aufgehoben. Die Arbeitgeber tragen wieder die Hälfte der Beiträge auf Löhne und Gehälter ihrer Beschäftigten. Eine solidarische Finanzierung schafft den Spielraum für einen Ausbau der pflegerischen Infrastruktur und birgt damit ein enormes Beschäftigungspotenzial.

Die Unionsparteien und SPD jedoch verweigern sich dieser solidarischen Alternative, die der Pflegekrise mit ihren alltäglichen Zumutungen für all die Menschen, die sich eine gute Pflege nicht leisten können, etwas entgegensetzen kann. Vor dem Hintergrund, dass die Regierung mit ihrer Politik selbst die Verantwortung für die soziale Schieflage in diesem Land trägt, ist es nicht nur zynisch, im Zusammenhang von hier ankommenden Menschen von „Zumutbarkeitsgrenzen“ zu sprechen. Es ist auch brandgefährlich.
 

linksfraktion.de, 4. November 2015