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Ruf nach Kaufkraft

Im Wortlaut von Klaus Ernst,

Arbeitsmarktexperte Klaus Ernst von der Linkspartei fordert einen Mindestlohn von 8,71 Euro pro Stunde. Dabei attackiert er die christlichen Gewerkschaften.

Soll die IG Metall auf den Vorschlag der Arbeitgeber eingehen und die gerade begonnenen Tarifverhandlungen wegen der Finanzkrise auf nächstes Jahr verschieben?

Dieser Vorschlag ist vollkommen inakzeptabel. Die Metallbranche hat in den letzten Jahren exzellent verdient. Und wenn jetzt einige Autobauer Probleme bekommen, hat das nichts mit der Finanzkrise zu tun, sondern damit, dass die Massennachfrage nicht anspringt. Deshalb müssen wir dringend etwas für den Konsum tun. Die Forderung der IG Metall von acht Prozent mehr Lohn würde mehr als zehn Milliarden Euro für die Binnennachfrage bringen.

Die Arbeitslosigkeit sinkt gerade unter drei Millionen - dank Lohnzurückhaltung und Agenda 2010. Verspielt die IG Metall diese Erfolge nun?

Ich glaube diesen Statistiken nicht. Meine Fraktion Die Linke hat das in einer Anfrage im Bundestag mal klären lassen. Das Ergebnis: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist weit höher. Man muss Ein-Euro-Jobber, 400-Euro-Arbeitsplätze und Ältere, die aus der Statistik entfernt wurden, dazuzählen. Im Jahr 2007 beispielsweise waren nicht 3,8 sondern über sechs Millionen Menschen wirklich arbeitslos.

Wollen Sie bestreiten, dass in den vergangenen Jahren die Zahl der Arbeitsplätze deutlich gestiegen ist?

Nein, aber das ist doch nicht auf irgendwelche Reformen zurückzuführen, sondern auf die gute Weltkonjunktur. Der Unterschied zu früheren Konjunkturzyklen ist allerdings, dass die Löhne trotz Aufschwung nicht gestiegen sind. Bei den Beschäftigten kommt vom Aufschwung nichts an.

Die IG Metall fordert auch gleichen Lohn für Zeitarbeiter und Stammbelegschaft. Gleichzeitig will sie einen gesetzlichen Mindestlohn für die Leiharbeit. Warum die Dopplung?

Die zentrale Forderung der IG Metall heißt: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, also: „Equal Pay“. Dort, wo die Menschen arbeiten, müssen sie gleich entlohnt werden, unabhängig davon, ob sie zur Stammbelegschaft gehören oder Leiharbeiter sind. Und hier ist in erster Linie der Gesetzgeber gefragt. Das Schlimme ist, dass das ja auch so im Gesetz steht und nur durch eine Öffnungsklausel umgangen wird. Diese Klausel muss weg. Bis das gelingt, kämpfen wir für tarifliche und gesetzliche Lösungen, dazu gehört eben auch die Aufnahme der Zeitarbeit in das Entsendegesetz. Unabhängig davon wollen Gewerkschaften und meine Partei Die Linke einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn

Soll künftig die Regierung anstelle von unabhängigen Gewerkschaften Löhne festsetzen?

Nein. Die Tarifverträge der IG Metall gehen doch deutlich über einen Mindestlohn hinaus. Die Gewerkschaften werden weiter Tarifverträge abschließen. Aber es gibt Bereiche, in denen wir viel zu wenig Mitglieder haben, um Tarifverträge durchsetzen zu können. Dort muss eine Untergrenze des Lohnes festgelegt werden. Das Streikrecht reicht nicht, man muss auch die Streikfähigkeit haben. Ansonsten werden Arbeitnehmer zu Bettlern.

Aber die Metall-Arbeitnehmer verdienen nicht schlecht und würden von einem Mindestlohn nicht profitieren.

Das stimmt, wo unsere Tarifverträge gelten. Aber auch in der Metallbranche gibt es Niedriglöhne, von denen die Menschen nicht leben können.

Wo ist das so?

Zum Beispiel in Fabriken, in die nachts Fremdfirmen kommen, um Maschinen zu reinigen. Dort verdienen die Beschäftigten dieser externen Anbieter zum Teil Hungerlöhne. Ein Mindestlohn würde dort wirken. Das gilt übrigens auch für Klein- und Kleinstbetriebe, wo es uns als Gewerkschaft nicht gelingt, Tarifverträge zu schließen.

Untergräbt der gesetzliche Mindestlohn nicht die Stellung der Gewerkschaften als Tarifpartner?

Überhaupt nicht. Wir brauchen eine Absicherung nach unten und müssen Mindestbedingungen schaffen. Das stärkt die Tarifautonomie und schwächt sie nicht.

Wenn Sie in den Bereichen, in denen die IG Metall wenige Mitglieder hat, einen Mindestlohn einführen, dann gibt es für die Beschäftigten keinen Grund mehr, der Gewerkschaft beizutreten.

Doch. Mit der IG Metall können die Beschäftigten Löhne durchsetzen, die über dem Mindestlohn liegen. Deshalb bleibt der Nutzen einer Gewerkschaft für die Beschäftigten in diesen bisher ungeschützten Bereichen selbstverständlich erhalten. Die Gewerkschaften sollen sich um den Tariflohn kümmern, und der Gesetzgeber soll die Bereiche absichern, in denen die gewerkschaftliche Kraft nicht ausreicht.

Die Linke fordert acht Euro, der DGB 7,50 Euro pro Stunde als Mindestlohn. Was wollen Sie?

Ich halte 7,50 Euro für zu niedrig. Das wäre nur ein erster Schritt. Wir sollten schon auf ein Niveau wie etwa Frankreich kommen, dort beträgt der Mindestlohn jetzt 8,71 Euro.

Das würde Arbeitsplätze kosten...

Nein, das ist ein Märchen. Wir haben etwa mit den englischen Gewerkschaften und den englischen Arbeitgeberverbänden gesprochen, die den Mindestlohn absolut positiv bewerten und ihn nicht mehr abschaffen wollen, sondern verteidigen, und zwar mit Händen und Füßen.

In Großbritannien sind die Lebenshaltungskosten viel höher. Der Mindestlohn dort entspricht real vielleicht vier Euro in Deutschland.

Wir können natürlich nur die Währungen umrechnen. Und da können wir etwa Frankreich als Maßstab nehmen. Dort ist die reale Kaufkraft mit der Deutschlands durchaus vergleichbar. Auch Luxemburg hat einen Mindestlohn, und dort schadet er der Volkswirtschaft auch nicht. Eine maßgebliche Funktion des Mindestlohns ist übrigens, Lohndrückerei auch durch die sogenannten christlichen Gewerkschaften zu unterbinden.

Werden Sie konkret.

Die Gewerkschaften des Christlichen Gewerkschaftsbundes brechen das Gebot gleicher Lohn für gleiche Arbeit. In den Branchen, in denen die IG Metall schwach ist, schließen sie extrem schlechte Tarifverträge ab. Nur: Dort haben die ja ebenfalls so gut wie keine Mitglieder. Das Problem ist, dass sich auf dem Gewerkschaftsmarkt momentan Gewerkschaften tummeln, die eigentlich gar keine Gewerkschaften sind, sondern von den Arbeitgebern unterstützt werden, damit man das Recht gleicher Lohn für gleiche Arbeit aushebeln kann.

Sie wollen keine Konkurrenz von christlichen Gewerkschaften?

Das Attribut „christlich“ sagt doch überhaupt nichts bei diesen Organisationen. Denn mit katholischer Soziallehre etwa hat das, was die machen, nichts zu tun. Im Gegenteil: In meiner Region arbeite ich auch mit den Industriepfarrern eng zusammen. Und die bekämpfen diese sogenannten christlichen Gewerkschaften genauso wie wir. Unser Ziel heißt: Wer Vollzeit arbeitet, soll von seiner Hände Arbeit leben können. Deshalb sind wir auch für einen Mindestlohn und lehnen staatliche Zuschüsse zum Lohn ab.

90 Prozent der Bezieher von Zuschüssen bekommen aber nur deshalb etwas vom Staat, weil sie Teilzeit arbeiten. Auch bei einem Mindestlohn von 7,50 Euro bräuchten sie Hilfe.

Auch ein Teilzeitarbeiter soll eine entsprechende Entlohnung bekommen. Das hat etwas mit Würde zu tun. Leistung muss sich lohnen. Das ist nicht nur eine materielle Frage.

Arbeitgeber können nur das bezahlen, was der Mitarbeiter erwirtschaftet. Ansonsten wird der Mitarbeiter arbeitslos. Akzeptieren Sie das?

Nein, das ist doch gar nicht der Punkt. Die Beschäftigten, um die es beim Mindestlohn geht, arbeiten zum Großteil im Dienstleistungsbereich. Wenn die Zimmermädchen im Hotel etwa mehr Geld erhalten dafür, dass sie die Betten machen, müssen die Betten trotzdem gemacht werden. Vielleicht hat dann die Hotelkette ein bisschen weniger Gewinn, aber es wird doch niemand entlassen, weil die Gäste beschließen, jetzt auf den Service zu verzichten, und ihre Betten selbst richten. Auch die Fenster an den Glastürmen der Frankfurter Banken werden weiter geputzt, auch wenn die Reinigungskräfte einen Mindestlohn erhalten.

Das Gespräch führte Stephan Balling

Rheinischer Merkur, 16. Oktober 2008