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Regierung bleibt Belege für “Integrationsverweigerung” schuldig

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,

Von Sevim Dagdelen, Sprecherin für Migrations- und Integrationspolitik der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag




Am 17. März 2011 beschloss der Bundestag mit Mehrheit von CDU/CSU und FDP verschärfte Sanktionen und Kontrollen im Zusammenhang verpflichtender Integrationskurse. Das war nach der „Sarrazin-Debatte“. Im Oktober 2009 – also vor der „Sarrazin-Debatte“ – hatte die vorherige Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD „bei den Sanktionsmöglichkeiten bei Verletzung der Teilnahmepflicht an einem Integrationskurs … keine Notwendigkeit für gesetzliche Änderungen“ gesehen.

Empirische Belege für die Unterstellung, es gebe eine bedeutende Zahl von „Integrationsverweigerern“ in Bezug auf die Verpflichtung zur Teilnahme an einem Integrationskurs, gab es damals wie heute nicht. Die Bundesregierung musste immer wieder auf meine Nachfragen kleinlaut zugeben, dass sie über „keine Erkenntnisse“ zu entsprechenden Pflichtverletzungen verfügt.

Vorgeschobene Gründe
Sie kann keine Aussage machen, ob es sich bei denjenigen, die einer Verpflichtung zum Sprachkurs nicht nachkommen oder diesen abbrechen „um ‚Verweigerer‘ handelt“, weil die vielfältigen Gründe für eine Nichtteilnahme statistisch nicht erfasst werden. Auch eine vom Bundesministerium des Innern (BMI) initiierte Umfrage unter den Bundesländern erbrachte keinerlei Anhaltspunkte für eine „Integrationsverweigerung“. Im Gegenteil: Mehrere Bundesländer erklärten, dass von aufenthaltsrechtlichen Sanktionen deshalb kaum Gebrauch gemacht werde, weil es „keine vorwerfbare Integrationskursverweigerung in nennenswertem Umfang“ gebe.

Dennoch aber gab es 2011 entsprechende Gesetzesverschärfungen. So wie Menschen in vielen Städten und Kommunen selbst angesichts eines Ausländeranteils an der Bevölkerung von gerade mal ein bis zwei Prozent der Meinung sind, man müsse vor „Überfremdung“ geschützt werden, so braucht es für die hegemoniale Politik auch keiner realen „Integrationsverweigerung“, um entsprechende Gesetzesverschärfungen gegen Menschen mit Migrationshintergrund zu rechtfertigen. Denn sie kann auf eine Stimmung bauen, die sie selber immer wieder durch den Aufbau solcher rechtspopulistischen Popanze (re)produziert und die ihnen die Zustimmung für diese diskriminierende und z.T. rassistische Politik sichert. Mit 25,1 Prozent ist laut der Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) „Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012“ die „Ausländerfeindlichkeit“ die bundesweit am weitesten verbreitete extrem rechte Position. Während in Westdeutschland jeder Fünfte eine solche Einstellung hat, sind es im Osten inzwischen 39 Prozent.

Deutschland Spitzenreiter
Nach der Änderung des § 8 Absatz 3 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) müssen die Ausländerbehörden seit Mitte 2011 bei Verlängerungen einer Aufenthaltserlaubnis prüfen, ob einer Verpflichtung zur Integrationskursteilnahme nachgekommen wurde. An sich eigentlich nichts Neues, denn das war bereits nach bisheriger Rechtslage so, wie die Bundesregierung auf Nachfrage bestätigte. Neben dieser eher symbolischen Verschärfung gibt es aber auch eine materielle Verschlechterung: Aufenthaltserlaubnisse von zur Integrationskursteilnahme verpflichteten Personen dürfen solange nur für längstens ein Jahr verlängert werden, bis ausreichende schriftliche und mündliche deutsche Sprachkenntnisse auf dem Niveau B1 nachgewiesen werden (oder ein anderer „Nachweis“ einer erfolgten Integration erbracht wird).

Kein anderes europäisches Land errichtet derart hohe Sprachhürden im Aufenthaltsrecht, wie eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages in meinem Auftrag zeigte. Diese hohen Sprachanforderungen sind umso bedenklicher, als nur gut die Hälfte aller Prüfungsteilnehmenden in Deutschland nach einem 600-900-stündigen Sprachkurs das Sprachniveau B1 erreicht. Hierfür können Qualitätsmängel des angebotenen Sprachunterrichts, aber auch unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen, Lern- und Sprachbegabungen, das Lebensalter der Betroffenen sowie besondere Lebenslagen (Krankheit, Schwangerschaft, Pflege von Angehörigen, Erziehung von Kindern usw.) verantwortlich sein. Die Gewährung einer längerfristigen Aufenthaltserlaubnis jedenfalls wird durch die Neuregelung abhängig von sozial selektiven Faktoren. Grundlegende Rechte werden von individuellen Sprach- und Lernfähigkeiten abhängig gemacht – und das ist inakzeptabel.

Zahlen belegen Integrationswillen
In der politischen Debatte wird das Nichterreichen des Sprachniveaus B1 mitunter sogar mit einer angeblichen Integrationsverweigerung gleichgesetzt. So erklärte etwa Hartfrid Wolff (FDP) im Deutschen Bundestag zur Rechtfertigung der Neuregelung (S. 10984): „Aber diejenigen, die sich nicht integrieren wollen, erhalten in Zukunft nur eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis“. Und der Abgeordnete Reinhard Grindel (CDU) behauptete, dass „wir“ durch die Neuregelung „erstmals das bekommen, was Sie immer anmahnen: belastbare Zahlen über Integrationsverweigerer. … Wir werden zum ersten Mal flächendeckend für ganz Deutschland sehr genau wissen, wie viele Personen dieser Pflicht [zur Integrationskursteilnahme] nicht nachgekommen sind“ (ebd., S. 10989). Dabei war mit der Gesetzesänderung keine erweiterte Datenerfassung in diesem Bereich verbunden, wie die Bundesregierung auf Anfrage bestätigte: „Die Informationspflicht wird insoweit nur in einen neuen gesetzlichen Rahmen überführt“.

Deshalb verwundert es nicht, dass auf meine aktuelle Kleine Anfrage hin die Bundesregierung bestätigte, dass es nach wie vor keine genauen Zahlen über eine angebliche “Integrationsverweigerung“ im Zusammenhang der Sprachkursteilnahme gibt. Im Gegenteil: Die Zahlen, die vorliegen, sprechen ganz klar gegen die Annahme einer verbreiteten „Integrationsverweigerung“.

Die Mär von 10-40 Prozent
12 von 16 Bundesländern (leider ohne NRW und die drei Stadtstaaten) haben Angaben zu Verpflichtungen zur Integrationskursteilnahme und entsprechenden Sanktionen gemacht. Nur eine „relativ geringe Zahl von Zuwanderern“ nimmt nicht am obligatorischen Integrationskurs teil, stellt die Bundesregierung auf der Grundlage dieser Zahlen fest (sie spricht von sechs Prozent, aus den von ihr genannten Zahlen ergibt sich: fünf Prozent).

In der Vergangenheit wurde der Anteil entsprechender „Integrationsverweigerer“ von Bundesinnenminister de Maizière noch auf 10-15 Prozent, von Wolfgang Bosbach (CDU) sogar auf 40 Prozent beziffert. Aus welchen Gründen aber die Betroffenen nicht an einem Kurs teilnahmen (z.B.: Krankheit, Schwangerschaft, Erwerbstätigkeit), dazu hatte und hat die Bundesregierung „keine Kenntnisse“. Zutreffend lehnt sie es deshalb ab, “bei allen Verpflichteten, die nicht am Integrationskurs teilnehmen, von Integrationsverweigerung auszugehen“. Das ist in Nuancen eine Verbesserung gegenüber der Vergangenheit, als sie erklärte, dass es „schon der hohe Anteil an Verpflichteten, die den Statistiken des BAMF zufolge den Integrationskurs gar nicht erst antreten“, zulasse, von einer „vorwerfbaren Integrationskursverweigerung in nennenswertem Umfang“ zu sprechen.

Kein einziger Integrationsverweigerer!
Weiter zu den Fakten: In den Jahren 2010-2011 wurde keine einzige Ausweisung mit angeblich integrationsfeindlichem Verhalten begründet. Bei 4 Personen, das sind 0,01 Prozent der Integrationskursverpflichteten, wurde die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht abgelehnt; allerdings ist nichts über die Bestandskraft dieser Entscheidungen bekannt. Bei 0,07 Prozent der Verpflichteten wurden Mittel des Verwaltungszwangs zur Durchsetzung des Kursbesuchs angewandt (26 Personen), 0,4 Prozent traf ein Bußgeld (155 Personen). 1.552 Mal wurde die Nichtverlängerung der Aufenthaltserlaubnis angedroht, in 1.548 Fällen (99,7 Prozent) führte dies zur Kursteilnahme. Rechnet man die Zahl der Personen zusammen, gegen die letztlich aufenthaltsrechtliche Sanktionen wegen der Nicht-Teilnahme am Integrationskurs ergriffen wurden, ergibt sich ein Prozentsatz von gerade einmal 0,5 Prozent aller Teilnahmeverpflichteten.
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Aber selbst diese extrem niedrigen Zahlen geben noch keine verlässlichen Hinweise auf eine gezielte „Verweigerungshaltung“, denn was hinter den Zahlen über verweigerte Kursteilnahmen steckt und wie sie zu bewerten sind, muss jeweils im Einzelfall geklärt werden. Zur Verdeutlichung sei an das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe erinnert, über das auch MiGAZIN unlängst berichtete.

Auswirkungen der repressiven Integrationspolitik
Die Richter meinten einer seit 30 Jahren in Deutschland lebenden, über 60jährigen türkischen Frau eine „besondere Integrationsbedürftigkeit“ bescheinigen zu müssen, die eine Verpflichtung zur Integrationskursteilnahme gegen ihren Willen rechtfertige. Die Frau konnte sich in ihrem Alltag verständigen und war in ihrem Leben niemals auf staatliche Sozialleistungen angewiesen. Die von ihr großgezogenen fünf Kinder sind alle deutsche Staatsangehörige und wiesen sehr gute Bildungsabschlüsse auf (Hochschulabschluss). Die Analphabetin gab an, die deutsche Sprache aufgrund ihres Alters und weil ihr das Lernen zu schwer falle nicht mehr erlernen zu können. Sie wolle sich um ihre Enkel kümmern. Eine amtsärztliche Untersuchung (!) erbrachte, dass die Betroffene nicht dauerhaft, sondern nur für drei Monate infolge einer Erkrankung am Spracherwerb gehindert sei. Das Gericht stellte klar, dass auch eine täglich zweistündige Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Sprachunterricht und zurück der älteren Frau zumutbar sei. Und es erklärte, es sei „unerheblich, ob der integrationsbedürftige Ausländer im Bundesgebiet gewillt ist, sich integrieren zu lassen bzw. die deutsche Sprache zu lernen. Auf die subjektive Sicht des Ausländer, bzw. auf seine Einsicht, kommt es nicht an“. Welch ein Zynismus!

Dieses Urteil veranschaulicht beispielhaft die negativen Auswirkungen der repressiven Integrationspolitik, wie sie in Deutschland seit geraumer Zeit von nahezu allen Parteien betrieben wird: Unter der griffigen Formel des „Forderns und Förderns“, mit der bereits das repressive Hartz IV-Regime eingeführt wurde, werden immer mehr Instrumente des Zwangs und Sanktionen begründet. Die pauschale – und falsche – Unterstellung, „die Ausländer“ wollten sich nicht „integrieren“ und verweigerten sich der „Integration“, ist dabei der diskursive Ausgangspunkt und eine zentrale Argumentationsfigur, denn andernfalls wären die verschärften Zwangsinstrumente ja nicht erforderlich.

Integration braucht keinen Zwang
Bereits im August 2010 hatte die Bundesregierung eingeräumt, dass sie nicht „beabsichtigt“, wissenschaftliche oder empirische Untersuchungen oder Forschungen zu der Frage vorzunehmen oder in Auftrag zu geben, „wie hoch der Anteil derjenigen neu eingereisten Ehegatten ist, die einer Verpflichtung zur Sprachkursteilnahme in Deutschland aus ihnen vorwerfbaren Gründen nicht nachgekommen sind“. Wen wundert es; die Bundesregierung fürchtet zu Recht, dass solche wissenschaftlichen Untersuchungen belegen würden, dass es keine „Integrationskursverweigerung“ in nennenswertem Umfang gibt und dass sie lediglich rechtspopulistische Propaganda betreibt, um aufenthaltsrechtliche Verschärfungen legitimieren zu können.

Ich bin der festen Überzeugung: Es bedarf keines Zwangs, sondern guter Sprachkursangebote in einem motivierenden und akzeptierenden gesellschaftlichen Umfeld, um Menschen zum Lernen zu bringen. Am Erwerb der deutschen Sprache haben die allermeisten Migrantinnen und Migranten ein Eigeninteresse, das stärker ist als alle gegen sie gerichteten Vorurteile zusammen. Es gibt viel zu tun in der Politik, um diesen Spracherwerb zu fördern: Etwa die Verbesserung der Integrationskurse und eine Ausweitung des Zugangs zu diesen Kursen, eine angemessene Bezahlung der Lehrkräfte, ein kostenfreies und interkulturell durchdachtes Betreuungsangebot für Kinder von Beginn an, die Beseitigung diskriminierender Mechanismen im Bildungssystem usw. usf. Nichts davon tut die aktuelle Bundesregierung, stattdessen werden Migrantinnen und Migranten für ihre Lage individuell verantwortlich gemacht und mit Sanktionen und Ausgrenzung bedroht. Gegen eine solche Politik steht DIE LINKE.

MiGAZIN, 17. Dezember 2012