Auswertung Kleine Anfrage 18/13374
Es besteht ein Missverhältnis zwischen der Anzahl der Verdachtsmeldungen auf Berufskrankheiten und deren Anerkennung. Die Quote stagniert bei etwa 26 Prozent.
Daher stellt sich die Frage, ob die gesetzlichen Hürden zu hoch sind. Nach dem SGB VII gelten eng eingegrenzte Erkrankungen als Berufskrankheiten. Zwingend vorausgesetzt wird hierfür die Prüfung und Feststellung besonderer Gefährdungen am Arbeitsplatz. Diesen Einwirkungen müssen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt gewesen sein. Erkenntnisse aufgrund der Erkrankung einer Einzelperson genügen nicht.
Als zuständige Träger der Unfallversicherung sind es die Berufsgenossenschaften, die festzustellen haben, ob die betreffende Erkrankung durch versicherte berufliche Tätigkeiten verursacht wurde. Das ist die Voraussetzung für die Gewährung von Renten und Entschädigungen. Die Kosten der gesetzlichen Unfallversicherung tragen die Arbeitgeber alleine. Das birgt das Risiko, dass in eigenem finanziellem Interesse möglichst wenigen Anträgen auf Anerkennung als Berufskrankheit stattgegeben wird. "Dass die Stellen, die für eventuelle Schäden bezahlen sollen, diese auch ermitteln, ist eine absolut einmalige Besonderheit unserer Rechtsordnung", kritisiert auch Hans-Joachim Woitowitz, emeritierter Professor für Arbeitsmedizin der Universität Gießen und langjähriger Vorsitzender des Ärztlichen Sachverständigenbeirates Berufskrankheiten.
Verbleiben die Kosten für Behandlung und Rehabilitation berufsbedingt Erkrankter bei den Kranken- und Rentenversicherungen bedeutet das eine Umverteilung zulasten der Beschäftigten, weil hierfür auch Arbeitnehmerbeiträge gezahlt werden. Für die Betroffenen kommt als Problematik hinzu, dass "angesichts des häufig fortgeschrittenen Lebensalters der Versicherten Gesamtverfahrensdauern (…) von oft über zehn Jahren rasch zur faktischen Rechtsverweigerung (geraten)".1
Klaus Ernst, stellvertretender Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, erklärt dazu:
"Das Bundesarbeitsministerium geriert sich beim Thema Berufskrankheiten als Arbeitgeber-Versteher. Es ist zu keinerlei Verbesserungen bei der Anerkennung von Berufskrankheiten im Sinne der Betroffenen bereit. Probleme werden ignoriert. Dabei weisen schon die steigende Erfolgsquote klagender Beschäftigter sowie die Halbierung der staatlichen Gewerbeärzte seit 2002 auf eine nachlässige Bearbeitung der Ansprüche von berufskranken Arbeitnehmern und auf eine unzureichende staatliche Kontrolle hin."
Ergebnisse im Einzelnen:
Antwort 1 – 3:
Die Zahl der Verdachtsanzeigen auf Vorliegen einer Berufskrankheit ist mit 68196 im Jahr 2002 und 75491 im Jahr 2016 um 11 Prozent gestiegen und die der anerkannten Berufskrankheiten um 16 Prozent (von 17722 auf 20539). Die Anerkennungsquote ist damit mit 26 Prozent im Jahr 2002 und 27 Prozent im Jahr 2016 annähernd konstant geblieben. Die Bundesregierung selbst will keine Anerkennungsquote in ihrer Antwort abbilden, da „die Qualität der Anzeigen sehr heterogen“ sei (Antwort 2) und die Quote damit kein „kein signifikanten Kriterium“ darstelle.
Die Kosten sind seit 2002 um 24 Prozent auf 1577 Mrd. gestiegen.
Die Bundesregierung sieht keinerlei Reformbedarf bei der Anerkennung von Berufskrankheiten und zeigt damit auch eine sehr große Nähe zum DGUV, dem großen Träger der Gesetzlichen Unfallversicherung.
– selbst beim Unterlassungszwang, wobei sie aber keine Begründung liefert. Unter „unterlassungszwang“ wird verstanden, dass Betroffene die Tätigkeiten aufgeben müssen, die die Krankheit verursacht haben. Nur dann kann sie rechtlich als Berufskrankheit anerkannt werden. Diese Vorgabe gilt für mehr als jede zehnte der derzeit 80 Berufskrankheiten gilt (Antwort 14) und macht laut IG Metall über 40 Prozent der angezeigten Berufskrankheiten aus. Für neue Berufskrankheiten wir von dieser Vorgabe seit 25 Jahren kein Gebrauch mehr gemacht wird. Es ist daher dreist, den Unterlassungszwang beizubehalten: Es ist offensichtlich, dass eine Mehrheit der Betroffenen dieser Vorgabe aufgrund von finanzielle Risiken nicht folgen kann. Damit erhalten die Betroffenen keine Entschädigung von der Unfallversicherung. Als sozialpolitische Kostenbremse scheint dies gewollt zu sein.
- Auch die lange Dauer der Anerkennungsverfahren stört die Bundesregierung nicht. In den letzten 15 Jahren sind 16 neue Berufskrankheiten aufgenommen worden. Deren durchschnittliche Beratungszeit im Ärztlichen Sachverständigenbeirat betrug knapp 3,5 Jahre, die Zeit bis zur Aufnahme in die BK-Liste 2,5 Jahre, im Durchschnitt gingen also für den Aufnahmeprozess 6 Jahre ins Land, die BK Nr. 4113 sogar 11 Jahre und 2 Monate (Antwort 3) – betroffen sind hier Beschäftigte von Kokereien und Straßenbauer. Auf die Frage nach der Verfahrensdauer zur individuellen Anerkennung einer Berufskrankheit betrachtet die Bundesregierung lediglich den Zeitraum „bis zur ersten versicherungsrechtlichen Entscheidung“ – also dem Entscheid des Rentenausschusses der Berufsgenossenschaft. Die lange Dauer der Verfahren ergibt sich aber erst aus der Zeit danach, die durch das Einlegen von Widersprüchen, Beauftragen von weiteren Gutachten und Gerichtsverfahren geprägt ist.
- Das Problem, dass für Gutachter möglicherweise ein finanzieller Anreiz besteht, Ansprüche von Versicherten abzuweisen – etwa um Folgeaufträge von den Berufsgenossenschaften zu erhalten -, besteht für die Bundesregierung nicht (Antwort 28 ff): „Die Bundesregierung sieht keinen Anlass, dass Gutachter ihre Haupt- oder ihre Nebeneinkünfte offenlegen sollten.“ (Antwort 31) – Warum die Bundesregierung diese Meinung vertritt, das bleibt geheim.
- Besonders drastisch ist die Entwicklung der Gewerbeärzte in den einzelnen Bundesländern. Die Zahl hat sich von 2001 auf 2016 halbiert (Antwort 36). Gewerbeärzte sind an Feststellung von Berufskrankheiten beteiligt und haben nach Paragraf 4 Absatz 2 Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) am Ende die Hand auf den Abschluss der Ermittlungsergebnisse. Dass das mit Blick auf die wenigen Gewerbeärzte in der Praxis kaum möglich ist, ist offensichtlich. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass mit einem Stellenabbau der Gewerbeärzte eine steigende und recht hohe Erfolgsquote klagender Versicherter in der ersten Instanz einhergeht. Dass selbst vor den Landessozialgerichten noch 10,7 Prozent Recht bekommen heißt, dass mindestens 15 % der Entscheidungen der Berufsgenossenschaften falsch sind (nicht jeder geht in die zweite Instanz, die gewonnen haben sowieso nicht).
Gewerbeärzte könnten eine Qualitätssicherung gewährleisten. Auch im Hinblick auf die Empfehlung neuer Krankheiten in die Berufskrankheitenliste wären deren Erkenntnisse äußerst wertvoll. Gehen jedoch die Anzeigen nicht mehr zentral über einen Tisch, dann ist eine Häufung von neuen Krankheiten schwerer feststellbar und die Aufnahme einer neuen Berufskrankheit kommt später, oder schlimmsten Falls gar nicht, in Gang.
Umso unverständlicher ist es, dass die Bundesregierung die Verantwortung auf die Länder schiebt („Die Länder entscheiden eigenverantwortlich über die hier eingesetzten Personalressourcen.“) und die Frage, warum deren Aufgabe nicht an eine Bundeseinrichtung übergeben werden, offen lässt.
- Auch die Praxis zur gesetzlichen Norm des gruppentypischen Erkrankungsrisikos nach § 9 Abs. 1 SGB VII („Für die Aufnahme neuer Erkrankungen in die Berufskrankheitenliste wird seit mehreren Jahrzehnten in der Regel eine Verdoppelung des relativen Risikos, d.h. eine Verdoppelung der Erkrankungshäufigkeit der exponierten Personengruppe im Verhältnis zur Vergleichsgruppe, zugrunde gelegt.“) wird von der Bundesregierung nicht in Frage gestellt: „Dies entspricht dem Kausalitätsprinzip der gesetzlichen Unfallversicherung“. Dabei gibt es insbesondere unter Juristen viele Stimmen – etwa Prof. Peter Becker vom Bundessozialgericht -, die sich für eine um ein Drittel erhöhte Wahrscheinlichkeit aussprechen.
- In Antwort 15 verweist die Bundesregierung, dass die „Unfallversicherungsträger die Beweislage zugunsten der Versicherten insbesondere durch die Errichtung von Gefährdungs- oder Arbeitsplatzkatastern verbessert“ haben. Die ganze Wahrheit ist jedoch, dass das nur für häufige Berufskrankheiten der Fall ist.
- Ebenso wenig hinterfragt die Bundesregierung, ob es sinnvoll ist, dass der DGUV mit zwei Vertretern an den Sitzungen des ärztlichen Sachverständigenbeirates teilnimmt (Antwort 23). In den Entscheidungsgremien des DGUV mögen auch Arbeitnehmervertreter sein - dass deshalb der DGUV jeweils die Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitsgeber vertritt, ist naiv.
1 Soziale Sicherheit, Zeitschrift für Arbeit und Soziales, 10-11/ 2016