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Radikalisierung der neoliberalen Euro-Reformagenda

Im Wortlaut von Alexander Ulrich,

Zum Bericht "Growth and the Euro after Brexit" der Bertelsmann-Stiftung und des Jacques Delors Institutes Berlin

Von Alexander Ulrich

Im Sommer 2015 legten die fünf EU-Präsidenten (jene von EZB, Eurogruppe, Europäischem Rat, EU-Kommission und EU-Parlament) ihren Bericht zur "Vertiefung und Vollendung der Währungsunion" vor. Darin skizzierten sie eine breit angelegte Reformagenda in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen und Fiskalpolitik. Einiges davon wurde bereits auf die Schiene gesetzt. Eine vollständige Umsetzung scheiterte aber sowohl am Unwillen der Bundesregierung Macht abzugeben, wie auch an der Angst vor Volksabstimmungen, die aufgrund der Notwendigkeit von Vertragsänderungen unvermeidbar gewesen wären.

Nun legten die "pro-europäischen" Think-Tanks Bertelsmann-Stiftung und Jacques Delor Institut Berlin nach. "Growth and the Euro after Brexit" heißt ihr jüngst veröffentlichter Bericht. Darin skizzieren sie eine Reformagenda, die sich wie eine radikalisierte und vor allem stärker auf deutsche Wirtschaftsinteressen und Machtansprüche ausgerichtete Variante des 5-Präsidenten-Berichtes liest.

So wird u.a. vorgeschlagen, dass der ESM (Europäische Stabilitätsmechanismus) künftig ohne Zustimmung der Mitgliedsstaaten `Rettungskredite` von bis zu 200 Milliarden Euro vergeben und den Nehmerländern Troika-Verarmungsprogramme diktieren darf. Später soll ein Euro-Finanzminister die Leitung übernehmen. Er hätte ein Veto-Recht gegen Haushalte von Schuldnerländern und wäre zugleich EU-Kommissar. Traumjob für Wolfgang Schäuble? Weiter wird vorgeschlagen, dass Länder mit zu hohen Schulden diese einmalig auf einen europäischen Fonds übertragen können. Der Preis: 30 Jahre Primärüberschuss-Pflicht. Das heißt: 30 Jahre neoliberale Kürzungspolitik, 30 Jahre Suspendierung der Demokratie.

Weitere Vorschläge zielen darauf ab, die Finanzmärkte weiter zu deregulieren, die Steuerzahler verstärkt in die Haft zu nehmen, wenn Großbanken sich verzockt haben und bei der Investitionspolitik stärker auf das Prinzip "Gewinne privatisieren, Risiken sozialisieren" zu setzen.

Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass dieses Papier im Falle der Umsetzung der radikalste Angriff auf Demokratie und soziale Rechte im Rahmen der EU-Krisenpolitik der letzten Jahre wäre. Damit stellt sich die Frage nach seiner Relevanz. Einfach ein neoliberaler Debattenbeitrag unter vielen? Gar die Initiative des Privatmannes Jacques Delors, wie es von den beteiligten Instituten gerne dargestellt wird? Leider nein. Der Wirtschaftsjournalist Norbert Häring erläutert: "Es gab schon einmal eine solche Vordenkerkommission, damals unter Leitung der Mutterorganisation des Jacques-Delors-Instituts Berlin, dem Jacques-Delors-Institute in Paris.  […] Diese Arbeitsgruppe kam 2012 mit dem Bericht 'Completing the Euro' heraus, der sich nicht zufällig, wie der erste Entwurf des späteren Vierpräsidentenberichts zur Fortentwicklung der Währungsunion und des noch späteren Fünfpräsidentenberichts liest. Vieles wurde mit Abwandlungen bereits umgesetzt. Man sieht deutlich: Die Experten haben den Weg vorgezeichnet, den der Euroraum ging."

Auch heute muss man davon ausgehen, dass dieser Bericht von den EU-Eliten bestellt wurde. Viele Autoren waren schon damals beteiligt, andere kommen direkt aus der Finanzwelt oder haben beste Beziehungen dorthin. Man sollte das Papier also nicht unterschätzen, nur weil es nicht von einer offiziellen EU-Institution o.ä. herausgegeben wurde. Man darf sicher sein, dass sich viele der Vorschläge bald in der offiziellen Debatte wiederfinden werden.