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Protest gegen soziale Spaltung

Im Wortlaut von Niema Movassat,

Von Niema Movassat

 




Massenweise strömen die Menschen in Brasilien auf die Straßen. Insgesamt waren es 200.000. Ursprünglich ging es um die Erhöhung der Ticketpreise im Nahverkehr. Die ist in São Paulo und Rio de Janeiro mittlerweile vom Tisch, die Demonstrierenden haben ihr Ziel in der Hinsicht erreicht.

Dennoch gehen die Proteste unverdrossen weiter. Denn es geht den Menschen um mehr: Sie kritisieren die immensen Kosten zum Bau neuer Infrastruktur für die Fußball WM 2014 und die große Korruption im Land. Deswegen blockierten 25.000 Demonstrierende in Fortaleza im Nordosten des Landes vor einem Spiel der brasilianischen Nationalmannschaft den Zugang zum Stadion. Teile der brasilianischen Nationalmannschaft haben sich inzwischen öffentlich mit den Protesten solidarisiert. So Weltstar Neymar und Trainer Scolari.

Die soziale Spaltung ist in Brasilien und ganz Lateinamerika immens. Im gesamten Kontinent kämpfen progressive Regierungen bis heute gegen die Auswirkungen der von IWF und Weltbank maßgeblich forcierten neoliberalen Privatisierungsorgien der 1990er Jahre. Schlechter und überteuerter öffentlicher Nahverkehr, aber auch Bildungs- und Gesundheitssysteme sind nur mit hohen Kosten wieder unter staatliche Kontrolle zu bringen. Brasilien hat jedoch in der Vergangenheit viel erreicht. Es gibt eine kostenlose Gesundheitsbasisversorgung für alle Bürgerinnen und Bürger. Umfassende Sozialprogramme haben rund 40 Millionen Menschen den Aufstieg aus der Armut ermöglicht.

Armensiedlungen interessieren die FIFA nicht

Proteste mit Blick auf die Austragung einer Fußballweltmeisterschaft gab es auch schon in Südafrika. Damals protestierten Arbeiterinnen und Arbeiter gegen niedrige Löhne. Es wundert nicht, dass es zu Massendemonstrationen kommt. Denn der intransparente und vor Korruption triefende Weltfußballverband FIFA diktiert schon viel zu lange den Austragungsländern seine Konditionen und schöpft die Gewinne hemmungslos ab. Die Folgen für die Menschen interessieren die FIFA nicht. Die Probleme rund um die Welt- oder Europameisterschaft in Südafrika oder der Ukraine waren dieselben wie jetzt in Brasilien. Wer hier tatsächlich etwas verändern möchte, muss sich an der FIFA und dem System des  "Sonnengotts" Sepp Blatter generell abarbeiten. Überfällig wäre es!

Doch die brasilianische Regierung trägt ihren Teil der Verantwortung. Die Umsiedlung ganzer Armensiedlungen, so genannter Favelas, geht einher mit massiver polizeilicher Gewalt. Das "Straßenbild" für die WM soll "schön" sein – da stören Armensiedlungen aus Sicht der Regierung und der FIFA. Umsiedlungen von Menschen aus ihren Wohngebieten sind gerade auch unter dem Aspekt, dass Wohnen ein Menschenrecht ist, scharf zu verurteilen. Vor allem, wenn es wie in Brasilien keine oder nur geringe Wiedergutmachung dafür gibt.

Die Ursachen für die aktuellen Massenproteste liegen jedoch tiefer, als es die Konflikte um den öffentlichen Nahverkehr und die Fußballweltmeisterschaft ahnen lassen: Die traumhaften Wachstumsraten der brasilianischen Wirtschaft sind zuletzt ins Stocken geraten. Der Wirtschaftsboom des letzten Jahrzehnts ermöglichte in der Vergangenheit großzügige Sozialprogramme ohne nennenswerte Mehrbelastungen für die Mittel- und Oberschicht. Man konnte Armut bekämpfen, ohne den Reichen wehzutun.

Brasilien – bei der ungleichen Reichtumsverteilung weit vorne

Heute stellt sich nun die grundlegende Frage, ob Brasilien zu Gunsten der ärmeren Schichten umverteilen möchte, oder ob die wohlhabenderen Teile der brasilianischen Gesellschaft weiterhin geschont werden. Noch gehört Brasilien weltweit zu den Ländern mit der ungleichsten Reichtumsverteilung.

Deshalb ist der Druck der Straße richtig und wichtig. Nichts anderes sagte Präsidentin Dilma Rousseff vor wenigen Tagen, als sie zustimmte, die Bürger hätten "ein Recht auf mehr" und "die Stimmen der Straße müssen gehört werden". Die Frage ist, ob den Worten auch Taten folgen.

Eins ist aber klar: Alleine kann sie die Forderung der Demonstrierenden nicht umzusetzen. Die regierende PT stellt nicht einmal die Mehrheit innerhalb der Regierungskoalition. Der linke Flügel der PT ist auch an der Organisation der  Proteste beteiligt und erhofft sich von diesen eine Stärkung der eigenen Forderungen innerhalb der Regierungskoalition nach mehr Verteilungsgerechtigkeit. Der Druck der Straße könnte am Ende zu einem Politikwechsel innerhalb der Regierung beitragen – damit wäre viel gewonnen!

Die überzogene Polizeigewalt und der Einsatz des Militärs im Innern in Brasilien ist inakzeptabel. DIE LINKE. steht in Brasilien wie in der Türkei solidarisch an der Seite der Demonstrierenden. Unrechtmäßige Repression der Sicherheitskräfte gegen soziale Proteste kennen wir aber auch aus Deutschland, beispielsweise bei Blockupy. Hier wie dort müssen wir ihr gemeinsam etwas entgegensetzen.

linksfraktion.de, 20. Juni 2013