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Plötzlich war Krieg

Im Wortlaut,

Wie Nikolai M. Beliaev vom Sportfest an die Front eilte

Von Frank Schwarz

Die kleine Hand gleitet vorsichtig, leicht zitternd über die kyrillischen Buchstaben. Namen und Botschaften sind an den Wänden im bekanntesten Gebäude Deutschlands zu lesen. Nikolai Michailowitsch Beliaev ist fast 89 Jahre alt und war seit 1945 nicht mehr im Reichstag. Nun steht er im Erdgeschoss und schaut nachdenklich auf die mit Inschriften übersäte Fläche. »Ich habe Murmansk verteidigt, ich habe Lettland verteidigt und befreit, ich war bei der Befreiung Polens dabei – von Warschau bis zur Hafenstadt Cammin. Daran erinnere ich mich mit Stolz, auch jetzt hier im Reichstag. Welch heroischen Weg haben wir zurückgelegt, wie viele unserer Freunde, unserer Kampfgefährten haben wir dabei verloren. Mit vielen von ihnen habe ich zusammen unter einer Zeltbahn geschlafen. Auch das erinnert mich an unseren Sieg«, sagt der etwa 1,65 Meter große Mann aus dem Kaliningrader Gebiet.

Beliaev zeigt ein historisches Foto, auf dem eine Einheit nach der Erstürmung des Reichstags im Mai 1945 zu sehen ist. »Das ist mein Regiment. Alles tapfere Jungs, wir haben bis Berlin viele von ihnen verloren«, erzählt der einstige Leutnant der Roten Armee. Er steht in seiner Original-Uniform aus den letzten Kriegstagen wieder an jener Stelle, an der er seine letzten Schüsse im Krieg abgegeben hatte. Beliaevs großer Wunsch war es, nochmals nach Berlin zu kommen, um der gefallenen Kameraden zu gedenken. Erst am Ehrenmal in Treptow und dann im Reichstag

Gemeinsam mit einer Jugendgruppe und zwei weiteren Kriegsveteranen ist Nikolai Michailowitsch Beliaev aus Russland in die deutsche Hauptstadt gefahren. Die Reise auf historischen Spuren führt den 89-Jährigen auch gedanklich in eine einst unbeschwerte, fröhliche Jugendzeit zurück.

An jenem 22. Juni 1941, einem heißen Sonntag, als die Deutschen die Sowjetunion überfielen, bestritt der junge Zeitungsredakteur gerade einen sportlichen Wettkampf in Kaliningrad bei Moskau. Die Jugendlichen legten das Abzeichen »Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung« ab. »Plötzlich kam ein Mitarbeiter der Maschinen- und Traktorstation und teilte mit, dass der Krieg ausgebrochen sei. Natürlich dachte da niemand mehr an Wettkampf. Die Veranstaltung wurde abgebrochen, alle erhielten den Auftrag, nach Hause zu fahren und sich in den Musterungsstellen bei den Dorfsowjets zu melden. Ich setzte mich auf mein Fahrrad und fuhr zu meinen Eltern«, erinnert sich Beliaev.

Von da an änderte sich alles, jeder wusste, dass eine schlimme Zeit nahte. Beliaev meldete sich sofort freiwillig und marschierte eine Woche nach dem Überfall an die Front – und durch bis nach Berlin.

Jewgeni Chaldej hat das wohl bekannteste Motiv des Sieges der Roten Armee über das faschistische Deutschland auf Zelluloid gebannt: Ein Rotarmist hisst auf dem Dach des Reichstages in Berlin die rote Fahne. Welche Fahne es genau gewesen ist, bleibt umstritten und ist historisch unerheblich. Nicht für Beliaev. »In unser Regiment wurde jene Fahne Nummer 5 gebracht, die anlässlich des 75. Geburtstags von Wladimir Iljitsch Lenin am 22. April 1945 vom Militärrat der 3. Stoßarmee verliehen wurde. Das ist ein herausragendes Datum. Insgesamt wurden neun solche Fahnen verliehen, entsprechend der Anzahl der Schützendivisionen in der 3. Stoßarmee. Unsere Division erhielt die Fahne, die zur Siegesfahne werden sollte«, ist Berliaev fest überzeugt.

Laurenz Demps, emeritierter Geschichtsprofessor von der Berliner Humboldt-Universität, sieht in der Erstürmung des Reichstages im Mai 1945 einen symbolischen Schlusspunkt. »Durch die Kriegsoffensive war das militärstrategisch unbedeutende Reichstagsgebäude für die Rotarmisten infolge der sowjetischen Kriegspropaganda nach dem Reichstagsbrand und dem anschließenden Prozess gegen Georgi Dimitroff der emotionale Endpunkt beim Sieg über das verfluchte Deutschland.«

Nikolai Michailowitsch Beliaev hat seine Inschrift an den Mauern des Reichstages nicht gefunden. »Ich hatte an die Reichstagswand geschrieben ›Für unsere Lisa!‹. Lisa – also Jelisaweta Tschaikina war Sekretärin eines Rayonkomitees des Komsomol im Untergrund, wo ich Aktivist war. Später wurde sie Heldin der Sowjetunion.«

Am 22. Juni wird der Kriegsveteran zu Hause sein. Nikolai Michailowitsch Beliaev wird diesen Tag ganz in Ruhe verbringen und nachdenken.

Neues Deutschland, 18. Juni 2011