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Perspektivwechsel auf das Ganze der Arbeit nötig

Im Wortlaut,

Die Zukunft der Arbeit vor dem Hintergrund nachhaltigen Wirtschaftens war das Thema der 22. Sitzung der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ am 15. Oktober 2011. Adelheid Biesecker, emeritierte Wirtschaftsprofessorin der Universität Bremen, hat dazu als externe Sachverständige für die Enquete-Kommission referiert. Außerdem eingeladen war Professor Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Zu den verschiedenen Herangehensweisen an Arbeit und Arbeitsmarktpolitik und die schwierigen Diskussionen in der Sitzung der Enquete haben wir Professor Adelheid Biesecker befragt.

Sie haben in der Sitzung die These aufgestellt, dass die Zukunft der Arbeit nicht die Zukunft der Erwerbsarbeit ist. Der Blick müsse vielmehr auf „Das Ganze der Arbeit“, also auch auf außermarktliche Arbeit, wie Sorge- und Pflegearbeit, gelenkt werden. Warum ist dieser Perspektivenwechsel so bedeutend?

Weil erst so die lebendigen Grundlagen unseres Wirtschaftssystems – die sozial weibliche unbezahlte Sorgearbeit sowie die ökologisch natürlichen Prozesse – in den Blick kommen. Der durch den Mainstream des ökonomischen Denkens und Handelns geprägte Blick grenzt diese Prozesse aus dem Ökonomischen aus. Sie gelten als nicht-, bestenfalls als „reproduktiv“. Sie werden nicht bewertet, aber alltäglich für die Kapitalverwertung gebraucht. Diese Ausgrenzung ist derart systematisch, dass von einem Externalisierungsprinzip gesprochen werden muss. Auf das Ausgegrenzte wirkt das zerstörerisch. Hier liegt die zentrale Ursache der vielen sozialen und ökologischen Krisen. Sie sind alle Ausdruck der einen Krise – der Krise des „Reproduktiven“. Wenn wir die Zukunft der Arbeit als Frage nach zukunftsfähiger Arbeit sehen – wenn wir sie also in den Zusammenhang mit einer nachhaltigen Entwicklung stellen – kommt es aber gerade darauf an, diese lebendigen Grundlagen dauerhaft zu erhalten. Das bedeutet, gesellschaftlich so zu produzieren, zu konsumieren und zu arbeiten, dass in diesen Prozessen das „Reproduktive“ nicht zerstört, sondern erhalten und erneuert wird. 

In der Sitzung der Enquete-Kommission selbst wurde erkennbar, dass dieser notwendige Perspektivwechsel hin zu zukunftsfähigem Arbeiten bei vielen Abgeordneten und Sachverständigen noch lange nicht vollzogen ist. Wo liegen ihrer Meinung nach die Gründe für die systematischen Ausblendungen?

Sie ist Ausdruck der Trennungsstruktur des Ökonomischen, die ich eben dargestellt habe. Als Ökonomie gilt eben nur, was am Markt und für den Markt geschieht. Als Arbeit gilt nur Erwerbsarbeit, Arbeit zur Produktion von Waren und Dienstleistungen für den Markt - obwohl 2/3 der gesellschaftlich notwendigen Arbeit außerhalb des Marktes, und hier vor allem von Frauen, geleistet werden. Das macht deutlich: die Trennungsstruktur ist geschlechtshierarchisch. Und sie führt zu einer Erwerbsarbeitsfixierung: An der Erwerbsarbeit hängen Selbstwertgefühl, soziale Integration, Einkommen, soziale Sicherheit. In diese Struktur sind wir alle hineinsozialisiert, wir sind sie gewöhnt, wir denken und handeln in ihr. Das könnte als Grund für die Unfähigkeit vieler Mitglieder zum Perspektivenwechsel angeführt werden. Allerdings gibt es seit mehr als 40 Jahren eine umfangreiche feministische Debatte um diese Fragen. Wäre sie zur Kenntnis genommen worden, würde die Debatte in der Enquete-Kommission anders verlaufen – mit dem Blick auf das Ganze der Ökonomie und der Arbeit. Und man hätte die Kommission von vornherein anders besetzt – mit mindestens 50% weiblichen Sachverständigen, die diese Perspektive in die Kommission von Anfang an hineingetragen hätten.  Das Problem ist also hausgemacht – aber ohne den Perspektivenwechsel geht es nicht, wenn wir unser Arbeitskonzept zukunftsfähig machen wollen.  

Zur Verkürzung der Arbeitszeit gibt es verschiedene Positionen. Michael Hüther behauptet, dass Teilzeitbeschäftigung überwiegend dem Wunsch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entsprechen würde. Gewerkschaftliche Positionen plädieren unter bestimmten Bedingungen durchaus auch für Arbeitszeitverkürzung. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass mit der Tatsache umgegangen werden muss, dass derzeit 9 Millionen Menschen in Deutschland länger arbeiten wollen. Sie selbst halten Arbeitszeitkonzepte mit reduzierter Erwerbsarbeitszeit für nötig, damit Zeit bleibt für die vielen Tätigkeiten jenseits des Marktes. Wie sollte Ihrer Meinung nach mit diesen Widersprüchen umgegangen werden?

Die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit ist absolut notwendig – wir haben nicht mehr so viel Zeit für Erwerbsarbeit, wenn wir zukunftsfähig werden wollen und die dafür nötigen lebens- und naturerhaltenden Tätgikeiten ausüben wollen. Der zunehmende Bedarf an guter Pflege für alte Menschen ist dabei eine spezifische Herausforderung. Man kann die Frage der Erwerbsarbeitszeitverkürzung aber nicht ohne Blick auf die Lohnhöhe diskutieren. Die meisten, die länger arbeiten wollen, wollen das, um mehr Geld zu verdienen. Ich selbst kenne das aus dem Pflegebereich, wo viele Frauen länger arbeiten wollen, weil sie zu wenig verdienen – und das trotz der schlechten Arbeitsbedingungen. Die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit muss also verbunden werden mit einer höheren Qualität der Arbeit (große Bereiche unserer heutigen Erwerbsarbeit sind qualitativ weder gut für die Menschen noch gut für die Natur!) und mit höheren Einkommen insbesondere in den unteren Lohngruppen. Hier können gute Mindestlöhne helfen, wie auch ein steuerfinanziertes Grundeinkommen. Darüber werden auch die anderen, außermarktlichen Tätigkeiten ermöglicht. Wenn wir also über „das Ganze der Arbeit“ und die Beteiligung aller daran nachdenken, geht es auch um neue Einkommensmodelle – und damit auch hier um Umverteilung.

Für welche politischen Handlungsempfehlungen plädieren sie hinsichtlich einer geschlechtergerechten und ökologisch tragfähigen Arbeits(markt)politik?

Ich habe der Enquete-Kommission folgende Handlungsempfehlungen vorgeschlagen:

  • Starke Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit
  • Qualifizierungsoffensive für Langzeitarbeitslose 
  • Umverteilung der Erwerbs- und der unbezahlten Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern: Die Hälfte dieser Sorgearbeit gehört den Männern, sie haben sie nur noch nicht haben wollen! Und die Hälfte der guten Erwerbsarbeit gehört den Frauen – sie wollen sie haben, bekommen sie aber nicht (jüngstes Beispiel: die Besetzung des freien Platzes im Direktorium der EZB mit einem Mann, trotz Protestes des Europäischen Parlaments).
  • Lebensfreundliche Teilzeitmodelle
  • Politische Sicherung von kollektiven Zeitrhythmen
  • Ausbau des sozialen Sicherungssystems zu einem umfassenden System sozialer Infrastruktur: Das sind alle institutionellen und materiellen Ressourcen, die die Teilhabe an allen Arten der Arbeit ermöglichen. Dazu gehören z. B. Kinderkrippen und -gärten, Ganztagsschulen mit guter Verpflegung und gleicher Zugang für alle zu guten Gesundheitsleistungen). 
  • Einstieg in ein Grundeinkommen durch Anhebung der Hartz IV-Sätze sowie der Grundsicherung im Alter.
  • Zur Finanzierung:  Wieder-Einführung einer Vermögenssteuer, höhere Erbschaftssteuer, höhere Progression in der Einkommenssteuer, Finanztransaktionssteuer, stärkere Besteuerung des Naturverbrauchs (z.B. durch Verstärkung de ökologischen Steuerreform).

Und ich habe deutlich gemacht, dass dieser Transformationsprozess von dem heute engen Arbeitskonzept hin zum „Ganzen der Arbeit“ insgesamt unbekannt ist und daher vieler demokratischer Beratungen bedarf – in den Betrieben und allen anderen Bereichen der Gesellschaft. Zukunftsfähigkeit ist ohne Alle einbeziehende Demokratie nicht zu haben. 

Interview: Jana Flemming, Referentin für die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“