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Patient als Melkkuh der Krankenversicherung

Im Wortlaut,

Experte prophezeit in einer Anhörung über die Finanzreform der Krankenkassen rasanten Anstieg der Zusatzbeiträge

Von Silvia Ottow

Rund zwei Wochen vor der endgültigen Verabschiedung des Arzneimittelgesetzes und der Finanzierungsreform für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) warnten gestern bei einer öffentlichen Anhörung Vertreter von Opposition und Sozialverbänden vor der Begünstigung von Arbeitgebern, Pharmaindustrie und Privatversicherungen. Derweil versuchte Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler, die Länder auf einer Sonderkonferenz gnädig zu stimmen.

Die Appelle aus der gestrigen Anhörung im Bundestag erwecken den Anschein, als könnte der Finanzierungsweg in der Gesetzlichen Krankenversicherung noch eine andere Richtung einschlagen. Das ist allerdings kaum mehr zu hoffen. Bereits Anfang November sollen sowohl das GKV-Finanzierungsgesetz als auch das Arzneimittelneuordnungsgesetz (AMNOG) endgültig verabschiedet werden, um im Januar in Kraft treten zu können.

Die Gesundheitsreform dürfe den Patienten nicht zur Melkkuh machen, heißt es beim Sozialverband Deutschland. Präsident Adolf Bauer versucht es noch einmal mit einem Statement für die solidarische Beitragsfinanzierung und gegen einseitige Belastungen der Versicherten, wie sie der Gesundheitsminister mit dem Ausbau der Zusatzbeiträge in seinem neuen Gesetz verankert hat. Er warnt auch vor Kostenerstattung. Dadurch würde sich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass medizinisch notwendige Leistungen aufgrund von Geldmangel bei Patienten nicht mehr in Anspruch genommen würden. Bauer fordert, höhere Einkommen verstärkt an der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung zu beteiligen. Martina Bunge von der Fraktion DIE LINKE im Bundestag spricht von der Zerstörung der solidarischen Krankenversicherung als Garant einer umfassenden Gesundheitsversorgung. Die Arbeitgeber würden von künftigen Kostensteigerungen befreit, die Private Krankenversicherung (PKV) bekomme mehr Gutverdiener und Arzneimittelrabatte und die Ärzteschaft ihre ersehnten Vorkasse.

Die Regierung stärke mit ihrem Gesetz die PKV, erklärt Thomas Ballast, Vorstandsvorsitzender des Verbandes der Ersatzkassen. Nach seiner Erwartung könnten 2011 etwa 100 000 GKV-Versicherte zu den Privaten wechseln und das solidarische System noch mehr schwächen. Die PKV hingegen, die alles andere als stabil sei, werden gestärkt. Der Kölner Gesundheitsökonom Markus Lüngen prognostizierte, im Jahr 2012 werde es Zusatzbeiträge von im Schnitt knapp vier Euro geben. »In den Folgejahren geht das sehr rasant hoch.« Bei jährlichen Kostensteigerungen von rund zwei Prozent hätten nach seinen Berechnungen in 15 Jahren alle 50 Millionen Kassenmitglieder einen Anspruch auf den im Gesetz vorgesehenen Sozialausgleich.

Nach dem Gesetzesentwurf zur Finanzierung der gesetzlichen Kassen sollen künftige Verteuerungen bei der Gesundheit allein durch Zusatzbeiträge finanziert werden, deren Höhe nach oben offen ist. Zuvor soll der Beitragssatz Anfang 2011 von 14,9 auf 15,5 Prozent steigen. Übersteigt der durchschnittlich von allen Kassen gebrauchte Zusatzbeitrag zwei Prozent des Einkommens eines Kassenmitglieds, erhält es einen Teil der Differenz durch einen Ausgleich aus Steuermitteln zurück. Die Details sind immer noch nicht ganz klar. Das AMNOG soll die Arzneimittelkosten der Kassen minimieren und zeichnet sich durch Geschenke an die Pharmaindustrie aus. Die darf beispielsweise weiter irrsinnig hohe Preise – in Fachkreisen Mondpreise genannt – für neue Medikamente von den Kassen fordern und muss nicht einmal mehr deren Zusatznutzen begründen, wenn es ein ähnliches Mittel bereits gibt. Die Verbeugung vor dem schwarz-gelben Klientel geht soweit, dass die Kritiker nachweisen sollen, dass es keinen Zusatznutzen hat.

Kritik an den Gesetzesvorhaben gab es auch auf der gestrigen Konferenz der Gesundheitsminister in Berlin. Ressortchefin Anita Tack (LINKE) aus Brandenburg sieht erhebliche finanzielle Risiken und Belastungen auf gesetzlich versicherte Patientinnen und Patienten zukommen. Gemeinsam mit ihren Kollegen aus den anderen Bundesländern forderte sie Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) auf, künftig die Länder in die Erarbeitung der Gesetzesvorlagen mit einzubeziehen. Dies sei bei den aktuellen Gesetzen nicht geschehen. Rösler machte seinerseits eine neue Baustelle auf. 2011 soll ein Versorgungsgesetz mit einer geänderten Bedarfsplanung auf den Weg gebracht werden, um dem Ärztemangel abzuhelfen. Den geben Politik und Ärzteschaft nun bereits seit einem Jahrzehnt an, zu bekämpfen, sind dabei aber nicht einmal so weit gekommen, über verlässliches Zahlenmaterial darüber zu verfügen, wie viele Mediziner eigentlich fehlen. Die Gesetze, um die es momentan geht, enthalten jedenfalls keine einzige Maßnahme, die dem Mangel entgegenwirken könnte.
 

Neues Deutschland, 26. Oktober 2010