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Organisiertes Staatsversagen

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,


 

Von Sevim Dagdelen, Beauftragte für Migration und Integration der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

 

Wie viele Untätigkeitsklagen sind mittlerweile gegen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gerichtet worden. Die Bundesregierung antwortete jetzt, fast entschuldigend, auf eine entsprechende Anfrage der Linksfraktion: »Zur Beschleunigung der Verfahren erfolgte im Jahr 2015 ein Aufwuchs des Personals um circa 40 Prozent. Die Zahlen wachsen durch kontinuierliche Neueinstellungen wöchentlich an. Zusätzlich sind gut 400 Sonderentscheider in den Entscheidungszentren eingesetzt, die dort ausschließlich entscheidungsreife Altfälle bearbeiten. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat im Jahr 2015 20 neue Außenstellen eröffnet. Zudem werden zur Verfahrensoptimierung beispielsweise die anhängigen Asylverfahren je nach Herkunftsregion und Bearbeitungsaufwand in drei Gruppen eingeteilt, um eine effizientere Bearbeitung sicherzustellen. Die Zahl der im Jahr 2015 getroffenen Entscheidungen hat sich im Vergleich zu 2014 mehr als verdoppelt (2015: 282.726; 2014: 128.911).«

Viele Flüchtlinge sind mit der schleppenden Bearbeitung ihrer Asylanträge unzufrieden, immer häufiger ziehen sie vor Gericht. 2.299 Untätigkeitsklagen waren es Ende 2015, die bei den Verwaltungsgerichten anhängig waren. Die meisten kamen dabei von Asylsuchenden aus Afghanistan (560), dem Irak (337), Eritrea (217) und Syrien (207). Was die Bundesregierung nicht sagt: In diesem Jahr sind noch 660.000 alte Asylfälle zu bearbeiten, wobei der BAMF-Präsident Frank-Jürgen Weise davon ausgeht, dass das ungefähr 360.000 bereits gestellte und 300.000 noch nicht gestellte Anträge umfasst. Darin nicht enthalten sind aber die Anträge neu ankommender Flüchtlinge.

Ewig dauernde Asylverfahren, eine aussichtslose Arbeitssituation und untragbare Unterkünfte: die Zustände im BAMF im Bereich der Asylbearbeitung sind katastrophal. Selbst der – im November noch neue – BAMF-Chef Weise sprach damals von »gruseligen« Arbeitsabläufen, die er in der Behörde vorgefunden habe. Nur scheinen diese offenkundig immer noch zu bestehen. Der Berg der etwa 360.000 unerledigten Asylverfahren, die seit mehr als einem Jahr andauern, hat sich um über 75.000 vergrößert. Die durchschnittliche Bearbeitungsdauer eines Asylantrags beträgt derzeit rund fünf Monate. Angepeilt und versprochen ist eine Asylverfahrensdauer von drei Monaten. Davon ist man weit entfernt. Besonders lang ist diese Dauer mit etwa 13 Monaten für afghanische und eritreische Flüchtlinge. Kein Wunder also, dass diese nun besonders oft wegen Untätigkeit gegen das BAMF – oder besser dieses organisierte Staatsversagen – klagen.

Die Bundesregierung lenkt von dem gezielten Behördenversagen reflexartig durch weitere Gesetzesverschärfungen ab. So soll bei Vorliegen bestimmter Straftaten ein Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention auch dann in seinen Herkunftsstaat abgeschoben werden können, wenn ihm dort Verfolgung droht. Der Familiennachzug wird für subsidiär Schutzberechtigte für zwei Jahre ausgesetzt. Es gelten niedrigere Hürden bei der Abschiebung Kranker, und monatlich werden als Beteiligung an den Kosten der Integrationskurse zehn Euro von den Asylbewerberleistungen abgezogen.

CDU, CSU und SPD einigten sich zudem auf eine Erweiterung der Liste sicherer Herkunftsstaaten um Algerien, Marokko und Tunesien. In der Pipeline ist nach wie vor auch die Türkei. Unverkennbar: Die Bundesregierung ist bereit, Menschenrechte, Flüchtlinge, kritische Oppositionelle und Journalisten sowie die kurdische Bevölkerung auf dem Altar der Flüchtlingsabwehr zu opfern. Statt Fluchtursachen zu bekämpfen sorgt die Bundesregierung mit ihrer Komplizenschaft mit Staatschef Recep Tayyip Erdogan dafür, dass demnächst vielleicht hunderttausende Kurden nach Europa fliehen müssen.

An tatsächlichen Verfahrensbeschleunigungen unter dem Aspekt des humanitären Flüchtlingsrechts hat die Bundesregierung keinerlei Interesse. Sie bürdet lieber dem ohnehin überforderten BAMF immer mehr sinnlose Arbeit auf und verlängert dadurch die Asylverfahren zusätzlich, zum Beispiel durch die wiedereingeführte Einzelfallprüfung für syrische Flüchtlinge.

Die Linke schlägt seit etwa einem Jahr eine Art »Altfallregelung« für lang anhängige Asylverfahren vor – das beträfe z.B. die ca. 75.000 seit über einem Jahr anhängigen Fälle. Das ist auch vor dem Hintergrund geboten, dass nach der EU-Asylverfahrensrichtlinie ein Asylverfahren eigentlich längstens sechs Monate dauern soll.

Ein weiterer Vorschlag ist, von automatischen Asyl-Widerrufsprüfungen drei Jahre nach der Anerkennung abzusehen. Diese Verfahren enden derzeit zu 97,8 Prozent mit der Entscheidung, dass kein Widerruf erfolgt; das sind also höchst arbeitsaufwendige, bürokratische Verfahren, die die Betroffenen verunsichern, aber im Ergebnis zu nichts führen. Zur Verfahrensbeschleunigung würde auch beitragen, die Prüfungen zu Aufenthalts- und Wiedereinreiseverboten durch das BAMF abzuschaffen, die seit dem 1. August 2015 vorgenommen werden. Auch hier hat das Amt einen ungeheuer großen Aufwand – und diese Prüfungen wurden zunächst auch in allen Fällen vorgenommen, obwohl es sich hierbei um eine »Kann«-Regelung im Gesetz handelt.

Auch schnelle Anerkennungen, vor allem im schriftlichen Verfahren, bei Asylsuchenden aus Ländern mit hohen Anerkennungsquoten, sparen Zeit und ermöglichen eine schnellere Integration der Flüchtlinge.

junge Welt, 30. Januar 2016