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»Ohne Protestbewegung keine Änderungen«

Im Wortlaut von Ulla Lötzer,

Öffentliche Dienstleistungen müssen vor Privatisierungsdruck geschützt werden. Ein Gespräch mit Ulla Lötzer

Ulla Lötzer ist Sprecherin für internationale Wirtschaftspolitik und Globalisierung der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag und Obfrau im Ausschuß Wirtschaft und Technologie

Wieviel »Bolkestein« ist noch in der geänderten EU-Dienstleistungsrichtlinie?

Noch eine Menge, das hat auch die gestrige Expertenanhörung im Wirtschaftsausschuß des Bundestages gezeigt. Der Rat der Europäischen Union und die EU-Kommission haben die Herausnahme des Arbeitsrechts aus der Direktive deutlich abgeschwächt. Auch betrifft sie weiterhin Teile der Daseinsvorsorge. Auf nationaler Ebene gibt es ebenfalls eine offene Flanke: Das Entsendegesetz ist auf den Baubereich beschränkt, ein gesetzlicher Mindestlohn fehlt. Hier muß etwas passieren, um Lohndumping zu bekämpfen.

Wie kann verhindert werden, daß öffentliche Einrichtungen, die dem Gemeinwohl dienen sollen, zu Marktobjekten werden?

Wir müssen dafür streiten, daß Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, das Gesundheitswesen, die Bildung und der soziale Bereich konsequent von der Richtlinie ausgenommen werden. Bisher gibt es nur eine verlängerte Ausnahmeliste. Außerdem fehlt eine klare Definition, was im öffentlichen Interesse liegt, was alles zur Daseinsvorsorge zählt. Das kann dazu führen, daß über ergänzende Richtlinien immer mehr Bereiche unter Liberalisierungs- und Privatisierungsdruck geraten.

Wieviel Schutz bietet die Richtlinie vor einem Dumpingwettbewerb mit Hilfe niedriger Standards bei Verbraucherschutz oder Arbeitsrecht?

In bezug auf Anforderungen, die man an ausländische Dienstleistungserbringer stellen kann, ist noch weitgehend das Herkunftslandprinzip erhalten, und zudem sind die Kontrollmöglichkeiten stark begrenzt. Dienstleistungen sollten zeitlich befristet sein, sonst handelt es sich um Niederlassungen. Doch das ist ungeklärt. Zur Zulässigkeit von Anforderungen wie einem Verbot von Verkäufen unter Einstandspreis gibt es ebenfalls Rechtsunsicherheiten. Das wird Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes nach sich ziehen - doch dann liegt dort die politische Gestaltungshoheit.

Auch aus der sozialdemokratischen Fraktion kamen sehr kritische Nachfragen zu den sozialen und arbeitsmarktpolitischen Risiken der Richtlinie...

Das ist wertlos, solange es ohne Konsequenzen für das Agieren der SPD in der großen Koalition bleibt. Sie hat der Politik der Bundesregierung im Rat nicht widersprochen. Selbst diese Anhörung wollte die SPD verhindern, da sie die Debatte nicht wünscht. Sie ist über ein Minderheitenvotum von Linken, FDP und Grünen durchgesetzt worden. Die CDU/SPD-Regierung steht auf dem Standpunkt, daß es keinerlei Modifikationen an der Richtlinie mehr geben darf. Deshalb suchen wir die öffentliche Auseinandersetzung und wollen auch die Ergebnisse der Anhörung dazu nutzen. Ohne eine Protestbewegung, die sich erneut Gehör verschafft, können keine weiteren Änderungen an der Richtlinie durchgesetzt werden.

Welche nächsten Schritte plant die Linksfraktion vor der Entscheidung des Europäischen Parlaments im November?

Wir setzen ein Augenmerk auf die nationale Umsetzung. Forderungen nach einem Rechtsfolgebericht werden von uns unterstützt. Außerdem werden wir die Initiative zur Änderung des Entsendegesetzes ergreifen. Eine weitere Zunahme von Lohndumping muß verhindert werden. Sowohl im Europäischen Parlament als auch im Bundestag werden die Linksfraktionen auf klare Regelungen zur Daseinsvorsorge, auf eine politische Definitionshoheit drängen. Wir wollen diese Bereiche schützen und werden uns dem Privatisierungsdruck entgegenstellen.

Interview: Peter Steiniger

junge Welt, 19. Oktober 2006