Sevim Dagdelen, stellvertretende Fraktionsvorsitzende, spricht im Interview mit den Stuttgarter Nachrichten über das Netzwerk von Erdogan-Getreuen in Deutschland und erklärt, was sie von der Bundesregierung in diesem Fall erwartet.
Frau Dagdelen, Sie haben sich die Abhörprotokolle und Observationsberichte angeschaut, die deutsche Ermittler im Zusammenhang mit Abhörmaßnahmen bei türkisch-stämmigen Kriminellen erstellt haben. Welchen Eindruck haben Sie dabei gewonnen?
Die Dokumente belegen, wie unter den Augen der deutschen Sicherheitsbehörden Erdogan ein Netzwerk aufbauen konnte bestehend aus türkischem Nachrichtendienst MIT, der Lobbygruppe „Union der europäisch-türkischen Demokraten“ UETD, der Moscheevereinigung DITIB, aus Islamisten, rechtsextremistischen Grauen Wölfen sowie den „Osmanen Germania“-Rockern. Der Schwerpunkt scheint dabei im Südwesten Deutschlands zu liegen.
Wie bewerten Sie diesen Umstand?
Die Bundesregierung hält an dem engen Bündnis mit der Türkei fest. Geostrategische, aber auch wirtschaftliche Interessen spielen da eine wesentliche Rolle. Denken Sie nur an das Panzergeschäft von Rheinmetall mit dem Erdogan-Regime. Der Flüchtlingsdeal mit dem türkischen Präsidenten hat die Bundesregierung erpressbar gemacht und einen Kuschelkurs gegenüber dem Erdogan-Netzwerk fahren lassen. Erdogans unheilvolle Allianz aus Agenten, Spitzeln, Internettrollen und DITIB-Imamen ist eine ernste Gefahr für die öffentliche Sicherheit in Deutschland. Es ist ein Skandal, dass Teile des Netzwerks wie DITIB auch noch mit öffentlichen Geldern unterstützt werden.
Welche Schlussfolgerung ziehen Sie daraus?
Wir brauchen Öffentlichkeit sowie die Sensibilisierung von Behörden und Politik. Mittlerweile gibt es erste Fortschritte, etwa, dass die deutschen Sicherheitsbehörden in Teilen gegen das Erdogan-Netzwerk vorgehen. Es gibt aber auch regelrechte Sabotage: Bei etlichen DITIB-Spitzelimamen hat die Bundesregierung anfangs durch Verschleppung praktisch Fluchthilfe geleistet, am Ende wurde das Ermittlungsverfahren mangels greifbarer Beschuldigter eingestellt ...
Die Bundesregierung gibt sich ja bei Anfragen von Abgeordneten ahnungslos …
Meist zieht sie es vor, auf die Zuständigkeit der Länder zu verweisen. Immer häufiger werden Antworten aber auch einfach als sogenannte Verschlusssache eingestuft und so der Öffentlichkeit vorenthalten. So war das zum Beispiel bei meinen Fragen, ob der im Jahr 2004 zu neun Jahren Haft verurteilt Necati „Neco“ Arabaci die Osmanen Germania maßgeblich aus Izmir führt und eine „Rattenlinie“ für gesuchte Straftäter aus der Rockerszene in die Türkei organisiert. Oder inwiefern personelle und/oder organisatorische Verbindungen der „Osmanen Germania“ zur UETD, der AKP und DITIB bestehen.
Was konkret erwarten Sie jetzt von Bundesregierung?
Das Wenigste ist der sofortige und umfassende Stopp der Rüstungsexporte. An den Despoten Erdogan darf keine Pistole und kein Panzerrohr mehr gehen. Die Bundesregierung muss sich in der EU endlich für die Beendigung der Beitrittsgespräche stark machen. Nur so können auch die jährlich 630 Millionen Euro sogenannter Vorbeitrittshilfen eingefroren werden. Diese Gelder stärken das Erdogan-Regime, nicht die Opposition. Notwendig sind aber auch innenpolitische Konsequenzen. Die von Ankara aus gesteuerte Moscheevereinigung DITIB darf als Außenstelle Erdogans nicht weiter mit deutschen Steuergeldern gefördert werden und nicht länger Kooperationspartner sein. Das gilt auch für andere Organisationen wie die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs.
Was versprechen Sie sich davon?
Zum einen mehr Sicherheit für all jene, die in Deutschland Zuflucht vor Erdogans islamistischem Autokraten-Staat suchen. Letztlich geht es aber um die Verbesserung der öffentlichen Sicherheit aller. Denn die „Osmanen Germania“ sind ja nicht nur fünfte Kolonne Erdogans. Die Schlägergruppe ist in schweren Menschenhandel, Körperverletzung, räuberischer Erpressung und Zuhälterei verwickelt.
Frau Dagdelen, Sie selbst werden wegen Ihrer Kritik an der Politik Erdogans inzwischen von der Polizei geschützt. Wie viel Druck hält Deutschland noch aus, wenn seine Politiker vor Attacken aus der Türkei geschützt werden müssen?
Es ist nicht die Frage, wie viel Druck wir noch ertragen können, sondern wie viel Druck wir noch ertragen wollen. Die Bundesregierung hat den Despoten viel zu lange hofiert und hält sich bis heute mit klaren Konsequenzen zurück. Statt der im Wahlkampf angekündigten Neuausrichtung der deutschen Türkei-Politik erleben wir gerade die Normalisierung der Beziehungen zulasten von Sicherheit, Menschenrechten und Demokratie.