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"Niedrigere Hartz-Sätze wären eine Unverschämtheit"

Im Wortlaut von Gregor Gysi,

Der Fraktionsvorsitzende der Linken, Gregor Gysi, über das Karlsruher Urteil, die SPD und den Vereinigungsprozess der eigenen Partei in der Berliner Zeitung.

Herr Gysi, das Hartz-Urteil dürfte Ihnen doch gar nicht gefallen .

Wieso denn?

Die Richter haben Ihnen das Thema für die Landtagswahlen im Mai in Nordrhein-Westfalen weggenommen. Die Losung - "Hartz muss weg" - hat sich erledigt. Womit wollen Sie jetzt mobilisieren?

Das stimmt gar nicht. FDP-Chef Westerwelle befürchtet ja schon gleichzeitig "spätrömische Dekadenz" und "sozialistische Züge" in Deutschland. Von Herrn Kauder hört man, die Hartz-Zuwendungen müssten gar nicht erhöht, es könnte auch weniger werden. Das ist eine unverschämte Beleidigung der Ärmsten. Das werden wir Union und FDP nicht durchgehen lassen. Zudem ist ja die soziale Frage nicht auf Hartz IV beschränkt.

Wo sehen Sie noch Schieflagen?

Die prekären Beschäftigungsverhältnisse haben in einem unerträglichen Maße zugenommen. Im Niedriglohnsektor arbeiten in Deutschland über 25 Prozent der Beschäftigten - damit haben wir die USA überholt, das ist ein Skandal. Wir brauchen endlich den gesetzlichen Mindestlohn.

Wie muss die fällige Hartz-Revision denn aussehen?

Das Existenzminimum muss ohne Demütigung und Repression gewährt werden. Was gehört dazu? Essen und Kleidung natürlich, aber das ist nicht alles. Ich bin sehr zufrieden, dass das Gericht auf die Teilhabe hingewiesen hat. Das heißt eben auch, wie kommen die Betroffenen Erwachsenen und Kinder an Bücher, an CDs, wie können sie ins Kino oder ins Theater gehen. Davon hängt auch das Bildungsniveau ab. Und nicht davon, ob ein Kind mal kostenlos einen Zirkel bekommt, wie Frau von der Leyen das wohl vorschwebt.

Die SPD besinnt sich auf das Soziale. Gräbt Ihnen das Wasser ab?

Die Besinnung der SPD auf das Soziale hält so lange, wie sie in der Opposition ist. Sie hört auf, wenn sie regiert. Hartz IV war eine Erfindung der SPD, nicht der Union. Die SPD hat bislang immer Wege zum Sozialabbau geöffnet, die sich Union und FDP nicht zu öffnen trauten. Die SPD hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Nach elf Jahren in der Bundesregierung sind die Wähler misstrauisch, was das Soziale bei den Sozialdemokraten angeht. Wir sind der Korrekturfaktor in der Gesellschaft. Deshalb wollen wir ja auch unbedingt in den Landtag von NRW einziehen.

Was dann? Halten Sie nach Ihrer Kritik ein Bündnis mit der SPD überhaupt für erstrebenswert?

Eine alternative Regierung wird niemals an uns scheitern. Wenn sie an der SPD scheitert wie in Hessen oder wie im Saarland an den Grünen, dann ist das etwas anderes.

Lohnt sich Regierungsbeteiligung für die Linken wirklich? Die Partei hat bei den darauffolgenden Wahlen immer Verluste hinnehmen müssen.

Dieses Argument wird auch in meiner Partei gern benutzt. Deshalb bringen wir 2011 den Gegenbeweis und legen in Berlin zu. Da bin ich optimistisch. Das wäre auch für unsere innerparteiliche Entwicklung wichtig, gut fürs Selbstvertrauen.

Fehlt es in Ihrer Partei angesichts der Führungskrise nicht vor allem an innerparteilichem Vertrauen?

Es gibt eine gewisse Verdächtigungskultur bei uns, das ist nicht in Ordnung. Aber ich bin zuversichtlich. In letzter Zeit werden immer mehr Sachen vernünftig entschieden.

Wenn Sie den Vorschlag für die neue Führung meinen: Da behielten offenbar einige Landeschefs die Faust nur mit Mühe in der Hosentasche. Glauben Sie wirklich, dass ein solcher Kompromiss weit trägt?

Der Kompromiss spiegelt unseren Zustand. Wir haben gesagt, lasst uns alles Wesentliche einbeziehen: Ost-West, Strömung A, B, C, Mann-Frau. Die jetzt zur Debatte stehenden Personen können miteinander. Ich habe einfach einsehen müssen, dass unser Vereinigungsprozess noch nicht so weit ist, wie ich es mir gewünscht hätte. Wir haben einen Vorschlag unterbreitet, den man unterstützen kann und sollte.

Im Osten scheint das nicht sicher.

Auch den Landesvorsitzenden im Osten muss klar sein, dass die Partei nicht so bleibt, wie sie mal war. Die Linkspartei ist nicht mehr die PDS. Den Landesvorsitzenden im Westen muss ich immer sagen: ihr seid nicht allein auf der Welt. Der Osten ist in einer anderen Situation, hier sind wir Volkspartei, hier gibt es Regierungsbeteiligungen. Das müsst ihr akzeptieren. Die Unterschiede müssen wir gegenseitig akzeptieren und nutzen.

Sie ziehen die Fäden. Wäre es da nicht konsequent, selbst anzutreten und zu sagen: Ich mach den Vorsitz?

Das fände ich nicht gut. Das wäre nur ein weiterer Übergang. Ich halte mich auch nicht für den "Fädenzieher". Aber ich sehe mich in der Verantwortung. Lafontaine, Bisky und ich sind ja noch da und wir mischen uns ein, und zwar gefragt und ungefragt. Aber die nächste Generation muss schrittweise die Führung übernehmen.

Was passiert, wenn Ihre Pläne nicht aufgehen. Müssen Sie dann nicht doch Vorsitzender werden?

Ach, davon gehen wir alle nicht aus.

Das Gespräch führte Frank Herold.

Berliner Zeitung, 12. Februar 2010