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Nichts hat sich erledigt

Interview der Woche von Gregor Gysi,

Sparpaket verabschiedet, Hartz-IV-Ungerechtigkeit durchgedrückt, seltsame Schlichtung in Stuttgart, geschönte Erwerbslosenzahlen, Boom bei der Leiharbeit - viel bleibt zu tun für die LINKE im Bundestag und vor Ort in Deutschland. Im INTERVIEW DER WOCHE erläutert der Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi die Positionen und das weitere Vorgehen der Fraktion DIE LINKE.

 

Die vergangenen beiden Wochen waren eine Zeit der Entscheidungen im Deutschen Bundestag. Die Regierungskoalition hat das sogenannte Sparpaket durchgedrückt, die Hartz-IV-Sätze festgeklopft, die AKW-Laufzeiten verlängert, das solidarische Krankenversicherungssystem weiter geschwächt und Arbeitnehmer wieder einmal stärker belastet. Haben sich damit gleich mehrere Herzensangelegenheiten der Fraktion DIE LINKE erledigt?

Gergor Gysi: Nein, selbstverständlich nicht. Die Neuregelung der Hartz IV-Regelsätze ist verfassungswidrig, weil sie nicht bedarfskonform, sondern allein haushaltskonform zurecht getrickst wurde. Wir streben mit anderen Abgeordneten eine Normenkontrollklage an.
Das gilt auch für die längeren AKW-Laufzeiten, da der Bundesrat verfassungswidrig herausgehalten wurde. Das Kopfpauschalensystem in der gesetzlichen Krankenversicherung wird sich wohl erst 2013 ändern lassen – vorausgesetzt, schwarz-gelb wird abgewählt und SPD und Grüne hätten den Willen zu grundlegenden Korrekturen. Für den notwendigen Druck dafür kann und wird die LINKE sorgen.

In Stuttgart hat die Schlichtung im Streit um den Bahnhofsneubau kein wirklich befriedigendes Ergebnis erbracht. Winfried Kretschmann, Fraktionschef der Grünen in Baden-Württemberg, war zwar ebenfalls nicht zufrieden, glaubt jedoch, dass auch in zukünftigen Planungsverfahren Schlichter schon während des Prozesses zum Einsatz kommen. Glauben Sie, dass Schlichtungsverfahren ein Gewinn sind und für mehr Bürgerbeteiligung sorgen?

Schlichtungsverfahren, wie wir sie aus Tarifverhandlungen kennen, sollen einen Kompromiss ermöglichen. Die Schlichtung in Stuttgart hat zu einem vertieften Austausch der konträren Argumente pro oder kontra von Stuttgart 21 geführt, und der Schiedsspruch von Heiner Geißler folgte den Argumenten der Bundes- und der Landesregierung sowie der Deutschen Bahn AG. Das war kein Kompromiss, es wird ja sogar weiter gebaut. Insofern können Schlichtungsverfahren eventuell zur Versachlichung der Debatten beitragen. Sie können aber nicht Volksentscheide ersetzen. Die Lehre aus der Schlichtung ist eine umfassende Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an den Entscheidungen von Großprojekten, nicht nur in Stuttgart, nicht nur bezüglich eines Bahnhofs.

Die Bundesregierung ist sehr glücklich darüber, auch weiterhin berichten zu können, dass die Erwerbslosenzahlen immer weiter fallen. Man könnte meinen, wir seien auf direktem Weg in die Vollbeschäftigung ...

Die Arbeitslosigkeit sinkt, obwohl die offiziellen Arbeitslosenzahlen die tatsächliche Arbeitslosigkeit von rund vier Millionen nicht wiederspiegeln. Besorgnis erregend ist, dass nur wenig sozialversicherungspflichtige Vollzeitstellen entstanden, fast die Hälfte aller Neueinstellungen befristet erfolgt und die Leiharbeit sich der Millionengrenze nähert. Es steigt also die prekäre Beschäftigung zu Ungunsten regulärer Vollzeitbeschäftigung. Das ist kein Grund, stolz zu sein.

A propos Leiharbeit: Wie sieht es denn aus mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die im Mai nächsten Jahres voll in Kraft tritt? Der Arbeitgeberverband der Zeitarbeitsbranche ruft ja schon laut nach einem Branchenmindestlohn.

Wir werden nach dem Entsendegesetz voraussichtlich einen weiteren Mindestlohn in der Zeitarbeitsbranche bekommen. Die Union und die Unternehmensverbände sind dafür, und die FDP wird letztlich einlenken, denn schwarz-gelb handelt nur äußerst selten, wenn überhaupt, gegen ihre Klientel.
Ein Mindestlohn in dieser Branche ist eigentlich überflüssig, wenn die Leiharbeit nach dem „Equal-Pay“-Prinzip geregelt wird. Ich fürchte, dass die Bundesregierung einen Mindestlohn einführen wird, der nicht diesem Prinzip entspricht und deutlich niedriger liegen wird. Die beste Lösung ist und bleibt ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn ab 1. Mai 2011, der bis 2013 auf mindestens 10 Euro steigen muss. Er wird aber wohl, wenn überhaupt, erst nach 2013 kommen, wenn es eine Mehrheit aus SPD, Grünen und Linken gibt, die daraus auch etwas macht.

 

linksfraktion.de, 07.12.2010