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Mit Mindestlohn gegen Lohndumping?

Im Wortlaut von Michael Schlecht,

Von Michael Schlecht





Der gesetzliche Mindestlohn soll jetzt kommen. Union und SPD wollen ihn ab 2015 einführen. Im Grundsatz ein begrüßenswerter sozialpolitischer Fortschritt. Für rund sechs Millionen Beschäftigte, die heute zu Hungerlöhnen arbeiten müssen, sind 8,50 Euro eine Verbesserung.

Dies wird zu einer Stärkung der Kaufkraft um 19 Milliarden Euro führen. Damit wird der nachfragewirksame Konsum jedoch lediglich um 0,9 Prozent erhöht. Gesamtwirtschaftlich leistet der in Aussicht gestellte Mindestlohn nur einen geringen Beitrag zur Stärkung der Binnennachfrage.

Seit 2000 sind die Löhne um mindestens elf Prozent zu wenig angestiegen; legt man als Maßstab den jährlichen verteilungsneutralen Spielraum aus Preis- und Produktivitätssteigerungen an. Mit dem jetzt geplanten Mindestlohn wird die Lohnsumme aller Beschäftigen gerade einmal um etwas mehr als ein Prozent erhöht. Das Lohndumping wird nur marginal gemildert.

Positiv ist, dass es bei der Einführung des Mindestlohns bislang keine regionalen Differenzierungen geben soll, auch keine nach Branchen oder Berufsgruppen. Jedoch sollen bis 2017 Tarifregelungen, die geringere Stundenlöhne als 8,50 Euro vorsehen, bestehen bleiben. Damit werden faktisch Gewerkschaftsmitglieder, die unter diese Tarifverträge fallen, schlechtergestellt als unorganisierte Beschäftige. Eigentlich sind gegenteilige Regelungen gewerkschaftliches Ziel. Von dieser schrägen Vorgehensweise sind nach Schätzungen aus Gewerkschaftskreisen höchstens zehn Prozent der Beschäftigen mit weniger als 8,50 Euro betroffen.

Die Hauptkritik: Der Mindestlohn kommt viel zu spät und der Betrag ist mehr als anachronistisch. Der DGB hat die Forderung von 8,50 Euro im Jahre 2010 aufgestellt. Diese hätte eigentlich jedes Jahr gemäß dem verteilungsneutralen Spielraum angepasst werden müssen. Dann läge 2015 der gesetzliche Mindestlohn bei 9,70 Euro.

Eine Erhöhung des Betrages von 8,50 Euro wird der Möglichkeit nach frühestens ab 2018 (!) in Aussicht gestellt. Faktisch werden also drei Jahre lang »Nullrunden« verordnet. Kein Tarifpolitiker würde es wagen seinen Mitglieder so etwas zuzumuten. Bei Berücksichtigung des verteilungsneutralen Spielraumes müsste der Mindestlohn 2018 mindestens auf 10,65 Euro erhöht werden.

Aus Sicht der Linken ist die Forderung von 8,50 Euro ohnehin zu niedrig. 10 Euro fordert DIE LINKE seit 2009. Auch auf dem letzten Gewerkschaftskongress von ver.di 2011 wurde diese Marke als perspektivisches Ziel formuliert. Nimmt man den verteilungsneutralen Spielraum als Maßstab für Erhöhungen der 10-Euro-Forderung, dann müsste der Mindestlohn 2015 11,50 Euro und 2018 12,50 Euro betragen.

Damit ist heute schon klar: Die Höhe eines angemessenen gesetzlichen Mindestlohnes wird im Wahlkampf 2017 ein wichtiges Thema werden!

Für die Gewerkschaften war und ist die Forderung nach dem Mindestlohn schwierig, da damit eingestanden wird, dass für immer größere Bereiche die Tarifmacht weggebrochen ist. Rund 50 Prozent der Beschäftigen arbeiten in Deutschland nicht mehr unter dem Schutz eines Flächentarifvertrages.

Das Herzstück gewerkschaftlicher Arbeit ist die Tarifpolitik. Es ist einerseits historisch gewachsener Anspruch staatsfern aus eigener, kollektiver Kraft die Einkommen zu regeln. Anderseits ist Tarifpolitik auch die entscheidende Klammer für die Mitgliedschaft. Sie ist ein wichtiger Grund Mitglied in einer tarifmächtigen Gewerkschaft zu sein und auch Beiträge zu zahlen. Denn: Nur wer Mitglied ist, hat den rechtlichen Schutz eine Tarifvertrages!

Mit den Hartz-Gesetzen im März 2003 war absehbar, dass durch Fortfall des Zumutbarkeitsschutzes beim Arbeitslosengeld der freie Fall der Löhne eingeleitet wurde. Die seit Jahren schon laufende Zerbröselung von Tarifen drohte durch Rot-Grün verschärft zu werden. In der Situation wurde ver.di faktisch die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn aufgezwungen. Denn in vielen Organisationsbereichen von ver.di, insbesondere bei den privaten Dienstleistungen, war die Zerbröselung der Tariflandschaft schon weit getrieben.

Insofern ist die Forderung nach dem gesetzlichen Mindestlohn eher eine Notwehrmaßnahme als eine fortschrittliche Forderung. Es ist gut, wenn er jetzt kommt, jedoch viel notwendiger ist die Stärkung der gewerkschaftlichen, tarifpolitischen Handlungsmöglichkeiten. Um das deutsche Lohndumping zu überwinden, brauchen wir nicht nur einen Mindestlohn von zehn, perspektivisch zwölf bis 13 Euro, vielmehr müssen über mehrere Jahre Tariflohnerhöhungen von mindestens sechs Prozent für alle Beschäftigen möglich werden.

Hierzu muss die Prekarisierung beendet werden. Wir brauchen eine neue Ordnung in der Arbeitswelt. Sie muss wieder auf die Füße gestellt werden.

neues deutschland, 9. Dezember 2013