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Mindestlöhne sind keine Jobkiller

Im Wortlaut,

Neuste internationale Studien belegen: Arbeitnehmer, die ein auskömmliches Einkommen haben, sind motiviert, ihre Produktivität steigt und sie konsumieren mehr. Das nützt der Wirtschaft.

Von Rudolf Hickel

Deutschland ist in der Entscheidung für Mindestlöhne im internationalen Vergleich ein Nachzüglerland. Dabei liegen positive Ergebnisse aus den Mindestlohn-Ländern vor. Die Gegner des flächendeckenden Verbots des freien Falls der Löhne unterhalb der Armutsgrenze nehmen die positiven Erfahrungen kaum zur Kenntnis. Dadurch entsteht der Eindruck, dass Deutschland sich als eine Insel versteht, die durch die Einführung von Mindestlöhnen unterzugehen droht. Umso wichtiger ist es, die internationalen Erfahrungen zu nutzen. Denn die wenigen für Deutschland angestellten Studien können auf konkrete, zurückliegende Ergebnisse nicht zurückgreifen. Sie sind also hypothetisch.

Wichtigste Erkenntnis der internationalen Studien ist: Die sich verbreitende Bedeutung von Löhnen, die unterhalb der Armutsgrenze liegen, verweist auf ein Marktversagen. Davon betroffen sind in Deutschland ca. sechs Millionen Erwerbstätige. Da die Tarifvertragsparteien praktisch in den Branchen mit Lohndumping nicht präsent sind, kann auch das Tarifvertragssystem nicht richtig greifen. Deshalb ist ordnungspolitisch der Staat gefordert, der damit auch den Marktmachtmissbrauch von Unternehmen gegen sozial schwache Abhängige von Erwerbsarbeit untersagt. Wie die internationalen Vergleichsstudien zeigen, Mindestlöhne führen zur Aufwertung der Erwerbsarbeit und damit wird die Arbeitsmotivation gestärkt.

Sicherlich ist die Ausweitung des Entsendegesetzes auf weitere Branchen mit besonders prekären Lohnverhältnissen ein wichtiger Schritt. Jedoch wird erst durch die Realisierung flächendeckender Mindestlöhne der Marktmissbrauch eingestellt und die Erwerbsarbeit generell aufgewertet.

In der Kontroverse über die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns in Deutschland wird von den Kritikern behauptet, die Vernichtung von Arbeitsplätzen vor allem im Niedriglohnsektor sei die Folge. Diese Behauptung stützt sich auf der Annahme, dass die Mindestlöhne über der Produktivität lägen, die durch die Arbeitskraft erbracht würden. Im Mittelpunkt stehen kurzfristige Kostenwirkungen. Positive Rückwirkungen werden nicht berücksichtigt. Vor allem wird die belastende Rückwirkung des Marktmachtmissbrauch gegenüber sozial schwachen Nachfragern auf ihr Arbeitsverhalten ausgeblendet.

Studien zu Ländern, die seit Jahren über Erfahrungen mit Mindestlöhnen verfügen, kommen überwiegend zu dem Ergebnis: Mindestlöhne führen nicht zu Insolvenzen der betroffenen Unternehmen, Arbeitsplätze werden nicht abgebaut, die Motivation der Beschäftigten steigt. Vor allem die positiven Ergebnisse in Großbritannien mit der Mindestlohnpolitik seit 1999 lassen sich durchaus auch auf Deutschland übertragen. Vor der Präsentation der Ergebnisse vor allem in Großbritannien werden Hinweise auf zwei sich widersprechende Studien zu den erwarteten Beschäftigungswirkungen eines flächendeckenden Mindestlohns in Deutschland gegeben.

Erste unzureichende Studien zur Einführung von Mindestlöhnen in Deutschland:

1. Die von Joachim Rangnitz (Institut für Wirtschaftsforschung in Halle) und Marcel Thum (Ifo-Institut) vorgelegte Studie, die belegen soll, dass bei einem Mindeststundenlohn von 7,50 Euro insgesamt 621 000 Arbeitsplätze verloren gehen, basiert auf der Faustregel, dass ein Prozent mehr Lohn zu einem Rückgang der Beschäftigung um 0,75 Prozent führe. Diese Untersuchung ist methodisch höchst zweifelhaft. Betont wird lediglich die Kostenseite in ihrer kurzfristigen Wirkung.

Dieser Ansatz wird den spezifischen Bedingungen im Niedriglohnsektor mit Arbeitskräftemangel und Motivationsdefiziten durch die nicht existenzsichernden Löhne nicht gerecht. Schließlich wird die Stärkung der Kaufkraft im Niedriglohnsektor wegen der sehr hohen Konsumquote der Betroffenen infolge eines Mindestlohns nicht berücksichtigt.

2. Eine durch Klaus Bartsch durchgeführte Studie betont die kurzfristigen Wirkungen der Stärkung des privaten Konsums und rechnet diesem Effekt zusätzliche

450 000 Arbeitsplätze zu. Allerdings reduziert sich längerfristig der Zuwachs auf 100 000 Arbeitsplätze. Dabei werden die Überwälzung der Lohnkosten auf die Preise sowie Rationalisierungseffekte berücksichtigt.

Positive Beschäftigungseffekte: Erkenntnisse aus internationalen Studien:

Da es bisher keine Erfahrungen mit Mindestlöhnen auf breiter Front in Deutschland gibt, sind die Studien zu Deutschland auf zweifelhafte Annahmen und Prognosen angewiesen. Umso wichtiger ist die Berücksichtigung der intensiven Erfahrungen im Ausland.

1. Die Auswertung von 86 Studien im internationalen Vergleich durch die Arbeitsmarktforscher David Neumark und William Washer zeigt, dass die These, Mindestlöhne würden zum Arbeitsplatzabbau führen, nicht durchgängig bestätigt wird. Während in früheren Jahren das Urteil, Mindestlöhne würden zum Beschäftigungsabbau führen, überwog, ist heute die Meinung differenzierter. Zehn Studien belegen, dass es zu keinen Beschäftigungsverlusten kommt. Dabei weisen die Studien, die negative Beschäftigungswirkungen behaupten, Probleme bei der statistischen Signifikanz auf.

Alan Blinder, ein renommierter Ökonom von der Princeton University, bekennt sich zu seinem Meinungswechsel: „Meine Gedanken dazu haben sich dramatisch verändert. Die Empirie scheint gegen die einfach gestrickte Theorie zu sein, in der ein leichter Anstieg des Mindestlohns einen erheblichen Verlust an Arbeitsplätzen bedeutet.“ Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung stellt fest: „Fast alle empirischen Studien kommen zu dem Ergebnis, dass von Mindestlöhnen keine nachteiligen Effekte auf die Beschäftigung ausgehen.“

2. Eine brandneue, umfassende Untersuchung hat David Metcalf von der London School of Economics zu den Beschäftigungswirkungen der flächendeckenden Mindestlöhne in Großbritannien seit 1999 vorgelegt. Metclaf ist gleichzeitig Mitglied der „Low Pay Commission“, die mit Vertretern der Arbeitgeber, der Gewerkschaften und der Wissenschaft besetzt ist. Sie legt die Mindestlöhne fest. In dieser Studie werden Gründe genannt, warum die Mindestlöhne nicht zu einem Beschäftigungsabbau geführt haben.

Heute liegt der Mindestlohn für Erwachsene (ab 22 Jahre) bei 5,35 Pfund (7,85 Euro). Bei der Einführung 1999 sind bei einem Mindestlohn von 4,50 Pfund (6,75 Euro) die Löhne von 1,2 Millionen Beschäftigten im Durchschnitt um 15 Prozent angehoben werden, obwohl die Kontrollen lax und die Strafen gering waren.

Widerlegt wird die in Deutschland verbreitete These, die Mindestlöhne, die über der Produktivität lägen, würden zum Arbeitsplatzabbau führen. Die dafür angeführten Gründe lassen sich gut auf Deutschland übertragen:

- Steigende Löhne werden mittelfristig auf die Preise überwälzt. Allerdings geht dies nur in Märkten, die nicht unter starkem Konkurrenzdruck stehen.

- Kurzfristig sind die Gewinne der Unternehmen zurückgegangen. Jedoch sind in der Mehrzahl Unternehmen, die niedrige Löhne einsetzen, nicht in die Insolvenz gezwungen worden (etwa Altersheime). Der Lohnanstieg war verkraftbar.

- Durch höhere Löhne ist der Arbeitskräftemangel in Bereichen zuvor besonders schlecht bezahlter Beschäftigung abgebaut worden.

- Höhere Löhne haben den Aufwand zur Kontrolle des Arbeitseinsatzes der Beschäftigten reduziert. Die Arbeit konnte effektiver organisiert werden. Die Arbeitsmotivation und damit die Produktivität der Beschäftigten wurde gesteigert.

Fazit: Die Ergebnisse zu den Beschäftigungswirkungen des Mindestlohns sind positiv. Sie lassen sich auf Deutschland übertragen. Flächendeckende Mindestlöhne sind kein Jobkiller. Im Gegenteil, es werden Produktivitätspotenziale bei den Beschäftigten freigesetzt und der private Konsum wird im Bereich der unteren Einkommensbezieher gestärkt.

Rudolf Hickel ist Direktor des Instituts Arbeit und Wirtschaft (IAW), Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Bremen und am Europäischen Institut für Wirtschaft, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik.

Veröffentlichungen:

„Die Risikospirale - was bleibt von der New Economy“, Eichborn-Verlag 2001.

„Kassensturz“, Rowohlt 2006.

Der dokumentierte Text ist der Beitrag Hickels in einem Streitgespräch mit dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Klaus F. Zimmermann. Den Disput führten die beiden Wissenschaftler unlängst in Berlin auf Einladung der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM).

Frankfurter Rundschau, 19. Juni 2007