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Menschenwürde ist keine Frage der Kassenlage

Im Wortlaut von Katja Kipping,

Von Katja Kipping, Vorsitzende der Partei, Mitglied des Vorstandes und sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
 

 

 

Das Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt, spricht sich gegen eine Erhöhung des Hartz IV-Regelsatzes aus. Er überschreitet mit seinen polemischen Äußerungen die Grenze der Neutralität der Bundesagentur für Arbeit. Bisher war der Bundesagentur ihre Neutralität zumindest dann immer wichtig, wenn es um eine Parteinahme im Sinne sozialer Gerechtigkeit ging. 

Wenn es aber darum geht, das Existenzminimum so niedrig wie möglich zu halten, gilt für Heinrich Alt offensichtlich diese Neutralität nicht mehr. Das soziokulturelle Existenzminimum darf nicht nach Kassenlage bestimmt werden. Denn dieses ist ein Grundrecht, das nicht angetastet werden darf.

Heinrich Alt suggeriert auf der einen Seite eine Erhöhung des Existenzminimums sei nicht finanzierbar. Zugleich greift er auf das Argument des Lohnabstands zurück, wenn er sagt „dass Arbeit weiter attraktiv“ bleiben müsse. Mit diesem Denken wurde die Existenzsicherung von Millionen Menschen in Geiselhaft genommen für eine fatale Arbeitsmarktpolitik. Die Folge: Die Armut unter Erwerbslosen nimmt dramatisch zu. Wie der Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsbericht ausweist, stieg die Armutsquote unter den Erwerbslosen von unter 30 Prozent im Jahr 1998 auf deutlich über die Hälfte - 56,4 Prozent - im Jahr 2010. Dies ist der sichtbare Ausdruck der Instrumentalisierung der Existenzsicherung als "Hungerpeitsche" für den Arbeitsmarkt. Das Existenzminimum wird kleingerechnet, so dass jede noch so schlecht bezahlte Arbeit abgenommen werden muss. Denselben Effekt haben die Drohungen mit Sanktionen.

Diese Argumentation ist spätestens seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2010 nicht mehr zulässig. Das menschenwürdige Existenzminimum ist ein soziales Grundrecht, das weder durch die Kassenlage noch durch die Löhne auf dem Arbeitsmarkt definiert werden darf, sondern ausschließlich über den notwendigen Bedarf. Infolge des Urteils ist konsequenterweise das so genannte Lohnabstandsgebot aus dem Gesetz gestrichen worden. Herr Alt und die Bundesagentur für Arbeit sollten sich darüber nicht hinweg setzen. Die Bundesregierung hat bei der Neuermittlung des menschenwürdigen Existenzminimums 2010 getrickst und manipuliert. Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts wurden nicht umgesetzt. Eine sachgerechte Neuermittlung ist dringend notwendig.

Wenn Herr Alt sich Sorgen macht über die mangelnde Attraktivität von Arbeit, so soll er für bessere Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt werben. Ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 10 Euro hätte etwa einen Gesamteffekt für die öffentlichen Haushalte in Höhe von 12 Mrd. Euro. Damit wäre bereits ein Großteil der Leistungserhöhung zu finanzieren. Darüber aber schweigt Herr Alt.

Schließlich zeigt ein Bericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung von 2008 (IAB Kurzbericht 11/2008), dass die Erhöhung des Existenzminimums sozialpolitisch genau in die gewünschte Richtung wirkt: es wird gesellschaftlicher Reichtum von oben nach unten zielgerichtet umverteilt und Armut bekämpft. Bereits bei der bescheidenen Erhöhung auf 420 Euro wird laut IAB das Armutsrisiko von 14,8 Prozent um 2 Prozentpunkte gesenkt. Besonders hoch wäre der armutsreduzierende Effekt bei Alleinerziehenden - minus 7,5 Prozentpunkte - und Paaren mit Kindern - minus 2,5 Prozentpunkte. 

Die Fraktion DIE LINKE hat im Rahmen der Haushaltsberatungen eine sofortige Anhebung des Regelsatzes auf 500 Euro für eine alleinstehende Person gefordert. Die Realisierung des menschenwürdigen Existenzminimums ist zwingend geboten und auch finanzierbar. Es muss nur umgesetzt werden.

linksfraktion.de, 22. November 2012