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Lügen über die Verhandlungen gegen Griechenland

Im Wortlaut von Klaus Ernst,

Von Klaus Ernst, stellvertretender Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag


Die Verhandlungen der Troika (neudeutsch: die Institutionen) mit Griechenland halten die Öffentlichkeit in Atem. Selten wurde so viel gelogen von den politischen Machthabern in Europa, viel zu selten haben Medien ihre Aufgabe erfüllt und die Erzählung der Machthaber hinterfragt. Der Machtkampf zwischen David und Goliath wurde jenseits von Sachorientierung und objektiver Berichterstattung zur Show inszeniert, die Rollen von Gut und Böse waren von Anfang an verteilt. Persönliche Befindlichkeit der Verhandler definierte moralische Wertigkeiten, aus denen ein Wahrheitsgehalt ersponnen wurde. Auf der Strecke blieben die Fakten.

Hier sind einige ausgewählte Beispiele auf Basis der letzten Dokumente vor Abbruch der Verhandlungen am 26. Juni (griechische Positionen vom 25. Juni, Positionen der Institutionen vom 26. Juni ). Entgegen der Behauptungen der Troika gab es von ihr die Forderung nach Kürzung der Renten und Anhebung der Mehrwertsteuer. Und es gab keine Offerte für zusätzliche 35 Milliarden neuer Gelder. Die Forderungen der Institutionen waren für Griechenland unannehmbar.

1. Keine Rentenkürzungen, keine Mehrwertsteuererhöhungen?

Der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, sagte am 29.6.15:
„In dem Paket sind keine Lohnkürzungen enthalten, und es sind keine Rentenkürzungen in dem Paket. Auch wurde keine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Strom, Lebensmittel und Medikamente gefordert.“

Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, am 27.6.2015 im ARD-Brennpunkt:„Die Angebote ... waren viel weitreichender, als die griechische Regierung das ihrem eigenen Volk erzählt ... Auf Mehrwertsteuererhöhungen wurde verzichtet, keine Rentenkürzungen sollen vorgenommen werden.“

Sigmar Gabriel, Bundeswirtschaftsminister, am 1.7.2015 in der Bundestags-Debatte:
„Fünf Monate lang ist verhandelt worden. Uns ging es, wie gesagt, um Hilfe, aber auch um verantwortungsvolles Handeln zu Hause. Das Bittere ist, dass dabei mit Rücksicht auf die sozialen Bedingungen ein Angebot gemacht wurde, das keinem anderen Krisenstaat in Europa zuvor jemals gemacht wurde: ohne Forderungen nach Rentenkürzungen quer durch alle Renten.“

Junker und Schulz lügen. Gabriel wirft Nebelkerzen.

Tatsächlich wurden global Rentenkürzungen gefordert in Höhe von einem Prozent des Bruttosozialproduktes ab 2016 (ca. 2 Mrd. Euro). Eine Anhebung der Mehrwertsteuer auf Strom und Medikamente und auf Grundnahrungsmittel wurde nicht gefordert, aber auf andere Lebensmittel! Generell wurde eine jährliche Erhöhung der Mehrwertsteuer um knapp 2 Milliarden Euro gefordert.
„Wenn man auf 1% des BIP aus Renten für das Jahr 2016 beharrt, besteht man auf Rentenkürzungen, nicht auf Reformen.“ (Euklit Tsakalotos, Verhandlungsführer der griechischen Delegation – und neuer Finanzminister Griechenlands – in einem Bericht zum Verlauf der Verhandlungen vom 30. Juni 2015)
 

Zentrale Beispiele aus dem letzten Verhandlungstext der Troika und dem griechischen Angebot vom 26. Juni 2015 zeigen das. 


Forderungen zur Rente:

  • Insgesamt Kosteneinsparungen im Rentensystem von 1 % (siehe Z.118/119) des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ab 2016. Das griechische BIP 2014 belief sich auf knapp 180 Mrd. Euro, gemessen daran bedeutet die einprozentige Kürzung eine Einsparung von 1,8 Mrd. Euro im Rentensystem.
  • Anhebung der Beiträge von RentnerInnen zur Krankenversicherung (siehe Z.140/141)
  • Anhebung des Regel-Renteneintrittsalters auf 67 Jahre (siehe Z.124) – im Ergebnis wirkt die Erhöhung des Renteneintrittsalters, wie auch in Deutschland, als Rentenkürzung für den Einzelnen
  • Weitere Umsetzung bereits 2010 und 2012 eingeforderter Gesetze zur „Modernisierung“ des Rentensystems, damit einhergehend eine neue Rentenformel, die bei nach 2015 Pensionierten zu Rentenkürzungen führt (siehe Z. 148ff).

Forderungen zur Mehrwertsteuer:

Die Institutionen fordern die Erhöhung des Mehrwertsteueraufkommens um 1% (siehe Z. 16) des Bruttoinlandsprodukts (gemessen am BIP von 2014 ein gefordertes Mehraufkommen von knapp 1,8 Milliarden Euro). Das soll unter anderem erreicht werden durch

  • Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes für Fertiggerichte, Essen in Restaurants und Catering von 13% auf 23 % (siehe Z.18). Dies betrifft im Wesentlichen den Tourismus, einen der größten Wirtschaftsfaktoren in Griechenland (2013 ca. 16% des BIP). Der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von 13% soll lediglich auf Grundnahrungsmittel („basic food“) weiterhin gelten.
  • Streichung des Mehrwertsteuernachlasses von 30 % auf den griechischen Inseln (siehe Z.22/23) – dort ist die Mehrwertsteuer reduziert, um die durch den höheren Transportaufwand höheren Lebenshaltungskosten auszugleichen. Die Streichung betrifft sämtliche Leistungen und Produktgruppen.

Forderungen zu Mindesteinkommen:

  • Die Gläubiger haben zwar der Einführung eines garantierten Mindesteinkommens ab 2015 zugestimmt – aber nur, wenn in anderen laufenden Sozialprogrammen 0,5 % des BIP eingespart werden (siehe Z. 83f).

Forderungen zu Lohnkürzungen:

  • Im öffentlichen Dienst sollen für die mittelfristige Haushaltsplanung Obergrenzen für Lohn- und Gehaltskosten gesetzt werden (siehe Z.196). In diesem Rahmen ist eine Senkung (siehe Z.199) der Lohn- und Gehaltskosten bis 2019 einzuhalten – das bedeutet entweder Senkung der Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst oder Personalabbau.
  • Zudem fordern die Institutionen: „Es werden ohne vorherigen Abschluss der Überprüfung des Systems keine Änderungen am geltenden Recht zu Tarifverhandlungen vorgenommen – und in keinem Fall vor Ende 2015. Jegliche vorgeschlagenen Änderungen am rechtlichen Rahmen werden nur in Abstimmung mit der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem IWF durchgeführt.“ (siehe Z. 298f)

2. Offerierte die Troika ein Investitionsprogramm über 35 Milliarden Euro?

Sigmar Gabriel, Bundeswirtschaftsminister, am 29.6.2015:

Gabriel verwies auf das weitrechende Angebot an Athen: „Ein 35-Milliarden-Investitionsprogramm der EU. Bedingung hierfür wäre gewesen, beispielsweise den Kampf gegen Steuerflucht entschlossen zu führen und die Militärausgaben zu reduzieren.“

Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, am 27.6.2015 im ARD-Brennpunkt und am 5.7.15 im Deutschlandfunk:

„Ein neues Hilfsprogramm ist angeboten worden, fast 30 Milliarden Euro zusätzlich...“

„Also wenn Sie da im Detail einsteigen, werden Sie sehen, dass die Kommission extrem weit entgegengekommen ist. Aber Ihre Frage zeigt, dass schon ein Ungleichgewicht da war, zwischen Behauptungen, die die Regierung in Athen aufstellt. Wir haben am Ende ein Papier auf dem Tisch gehabt, da waren die 60 Millionen auseinander, bei dem Gesamtvolumen des Hilfsvolumens von 30 Milliarden Euro“.
 

Die Öffentlichkeit wurde mit solchen Aussagen schlicht für dumm verkauft. Das vermeintliche Hilfspaket, das EP-Präsident Schulz und Bundeswirtschaftsminister Gabriel nennen (Volumen 30-35 Milliarden Euro) gibt es nicht. Griechenland hat, wie alle anderen wirtschaftlich schwachen Länder der EU, Zugriff auf Strukturfonds-Mittel. Diese Mittel sind aber nur abrufbar, wenn das antragstellende Land eigene Mittel dazulegt. Dazu fehlt Griechenland das Geld, so dass theoretisch Griechenland für die Periode 2014 bis 2021 Fördermittel von etwa 35 Milliarden Euro abrufen könnte, wegen der Eigenleistung aber faktisch dazu nicht in der Lage ist. Bereits im Förderzeitraum 2007 bis 2013 konnte Athen 38 Milliarden Euro nicht abrufen. Es gab kein Angebot über ein zusätzliches Hilfspaket mit einem Volumen von 30-35 Milliarden Euro.

Dazu klärt die Journalistin Cerstin Gammelin am 29. Juni 2015 in der Süddeutschen Zeitung auf:

„Das Papier sah 35 Milliarden Euro für Athen vor – allerdings nicht als besonderes Investitionspaket. Es handelt sich nur um förderfähige Zuschüsse, die alle EU-Länder bekommen können. Athen kann dieses Geld voraussichtlich gar nicht abrufen.“....
„Auf Seite 1 des Dokumentes Erinnerungshilfe finden sich die von SPD-Chef Gabriel erwähnten 35 Milliarden Euro - allerdings nicht als besonderes Investitionspaket. Die Summe von etwas mehr als 35 Milliarden Euro umfasst die förderfähigen Zuschüsse, die Griechenland in den Jahren 2014 bis 2020 aus dem Strukturfördertopf der Europäischen Kommission abrufen kann – und zwar sowieso, wie andere Länder auch. In der vergangenen Periode 2007 bis 2013 hatte Athen insgesamt 38 Milliarden Euro zur Verfügung, konnte diese aber nicht abrufen, weil die Regierung dazu eine Co-Finanzierung bereitstellen muss. Weil Griechenland aber kein Geld hat für Co-Finanzierungen, auch nicht, um den ermäßigten Satz von 15 Prozent der Gesamtkosten eines förderungsfähigen Projektes zu zahlen, kann es diese Mittel nicht (vollständig) abrufen und würde es auch in Zukunft unter den gegebenen Umständen nicht können. “... „Ein konkretes Angebot der Gläubiger für ein drittes Programm oder die geforderte Umschuldung findet sich in den Dokumenten allerdings nicht.“
 

3. Schuldennachlass und ein drittes Hilfsprogramm?

Sigmar Gabriel, Bundewirtschaftsminister, am 29.6.2015 auf  SPD.de:

„Gabriel verwies auf das weitrechende Angebot an Athen: „Die Verlängerung des laufenden Hilfsprogramms mit weiteren 15 Milliarden Euro etwa, ein drittes Hilfsprogramm als Anschlussfinanzierung, Schuldenerleichterungen, wenn Reformen umgesetzt werden.“

Laut Verhandlungsunterlagen und Berichten des Bundesfinanzministeriums ist bei den Verhandlungen nicht über ein drittes Hilfsprogramm gesprochen worden, auch eine Schuldenerleichterung war nicht Gegenstand der Verhandlungen.

4. Differenz bei Verhandlung: 60 Millionen auseinander? Oder 400 Millionen? Oder was?

Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, am 5.7.2015 im Deutschlandfunk:
„Wir haben am Ende ein Papier auf dem Tisch gehabt, da waren die 60 Millionen auseinander“

Anton Hofreiter, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag, am 29.6.2015, redaktioneller Beitrag von N.TV:

Anton Hofreiter fordert einen weiteren Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs. Es könne nicht sein, dass eine Differenz in Höhe von 400 Millionen Euro dazu führt, dass die Eurozone in derartige Gefahr gerät und in Griechenland schwerste soziale und politische Verwerfungen drohen.

So in dem Beitrag. Allein bei den unterschiedlichen Positionen zur Mehrwertsteuer ergibt sich eine Differenz von 130 Millionen Euro. Die Institutionen verlangen Mehraufkommen in Höhe von 1 % des Bruttoinlandsprodukts. Griechenland hat auf Druck der Gläubiger zugestanden, dass 0,93 % zusätzliches Aufkommen erreichbar wäre. Auch bei der Finanzierung eines Mindesteinkommens verlangen die Gläubiger, dass dieses aus Einsparungen von 0,5% des BIP in anderen Sozialprogrammen finanziert wird. Hier beträgt die Differenz 900 Millionen Euro.

Viel schwerer wiegen Differenzen zwischen den Verhandlungspartner, die nicht bezifferbar sind, aber von struktureller Bedeutung mit sehr langfristigen Folgen.

So wurde der geplanten Regulierung am Arbeitsmarkt – z.B. Tarifvertragsrecht – eine Generalbremse eingezogen. Eine Abkehr von der Deregulierung am Arbeitsmarkt, die die griechische Regierung als eine der Hauptversprechen abgab, muss im Detail vorab mit der Troika abgestimmt werden. Ein weiterer Abwärtstrend der Löhne im Öffentlichen Dienst im Verhältnis zum BIP wurde ebenso gefordert. Welcher Schlaumeier kann die Folgen der systematischen Deregulierung des Arbeitsmarktes berechnen? Die Gläubiger verweigern eine einmalige Besteuerung von Unternehmen mit Gewinnen ab 500.000 Euro. In welcher Höhe entgehen damit Einnahmen? Die Gläubiger verlangen eine weitere Privatisierung mehrerer Flughäfen – angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation in Griechenland ist kein hoher Verkaufspreis zu erwarten. Zudem fallen eventuelle Gewinne der privatisierten Unternehmen künftig als öffentliche Einnahmequelle aus.

Ein Blick in die Verhandlungsdokumente zeigt, dass die Berechnungen von Schulz und Hofreiter äußerst unseriös sind.

 

Wichtige Links:

 

linksfraktion.de, 8. Juli 2015