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»Lissabon ist keine Alternative zu Nizza«

Im Wortlaut von Diether Dehm,

Linke kritisiert Fehlen von Sozialstaatlichkeit

Die Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon ist für Sie ein »schwarzer Tag«. Warum?

Weil es ein Tag der Desintegration Europas ist. Wer Europa nur als additive Freihandelszone betrachtet, hat Integration nicht begriffen. Integration braucht Leitprinzipien, die aus den zentralen Prinzipien der verschiedenen europäischen Verfassungsdebatten abgeleitet sind. So gibt es auch im Grundgesetz die Einheit von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Sozialstaatlichkeit. Gerade die Sozialstaatlichkeit aber fehlt im Lissabon-Vertrag. Die gern zitierte »wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft« hat nicht das Mindeste mit dem Sozialstaatsgedanken zu tun. Denn dieser ist letztlich die Umsetzung der Treuepflicht gegenüber den Bürgern, die ja Rechte an den Staat abtreten und im Gegenzug ein bestimmtes Maß an sozialem Schutz erhalten müssen. Die Linke fordert Sozialstaatlichkeit auch auf europäischer Ebene, wo übertragene Staatsgewalt ausgeübt wird. Sie ist daher praktisch die einzige ernsthafte Kraft, die wirklich europäische Integration will.

Aber ist der neue Vertrag nicht besser als jener von Nizza?

Darüber, dass Nizza überwunden werden muss, herrscht weitgehende Einigkeit. Aber der Vertrag von Lissabon ist keine Alternative. Die Aufrüstungsverpflichtung bei gleichzeitigen sozialen Einschnitten bekäme eine verfassungsähnliche Grundlage. Der unverfälschte Wettbewerb ist in ein Protokoll verschoben, aber Bestandteil des Vertrags geblieben. Deshalb soll ja das Volk auch auf jeden Fall aus dem Vertragsprozess herausgehalten werden. Ich will hier nur sagen: Präsident Hugo Chávez hat in Venezuela zwar das jüngste Referendum verloren, aber er hat das Ergebnis akzeptiert. Es gibt, wie ich gestern im Bundestag sagte, noch Demokraten auf der Welt, von denen die in der EU Herrschenden lernen können.

Ist denn der Vertrag von Lissabon überhaupt noch zu stoppen?

Es ist ja noch offen, wie die Iren, die über den Vertrag abstimmen, entscheiden werden. Momentan deuten die Umfragen auf eine Mehrheit gegen Lissabon hin. Auch in Großbritannien ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Die Gewerkschaften machen derzeit viel Druck auf Premier Brown, um den Vertrag zu verhindern. Und auch in Deutschland hat bekanntlich das Bundesverfassungsgericht Bundespräsident Köhler nach der Verfassungsbeschwerde des CSU-Abgeordneten Gauweiler gehindert, das Zustimmungsgesetz zu unterschreiben. Als Linke müssen wir unsere verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den Lissabon-Vertrag jedoch nicht wie Gauweiler nur auf rechtliche Aspekte, sondern sehr stark auf das Fehlen der Sozialstaatlichkeit konzentrieren, die das Grundgesetz festschreibt.

Hat die Linksfraktion im Bundestag eine entsprechende Verfassungsklage bereits beschlossen?

Wir haben sie noch nicht beschlossen. Aber eine solche Verfassungsklage wäre ja auch von einzelnen Abgeordneten möglich, wie das Beispiel Gauweiler zeigt. Ich gehe davon aus, dass eine erkennbare Zahl von Bundestagsabgeordneten eine verfassungsrechtliche Klage gegen den Vertrag von Lissabon mittragen würde. An dieser würden sicherlich auch einige namhafte Verfassungsrechtler der Bundesrepublik mitwirken. Eine Klage kann aber prinzipiell erst dann erfolgen, wenn der Bundestag seinen Beschluss gefasst hat.

Fragen: Uwe Sattler

Neues Deutschland, 13. Dezember 2007