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LIBOR-Skandal: Banken manipulierten systematisch

Im Wortlaut von Richard Pitterle,

Von Richard Pitterle






Der LIBOR-Zinssatz ist über Jahre manipuliert worden. Der LIBOR gilt als einer der wichtigsten Referenzzinssätze auf den internationalen Kapitalmärkten und ist Grundlage für die Berechnung der Zinsen von Krediten und Derivaten im Umfang von mehr als 500.000 Milliarden US-Dollar.

Täglich melden die wichtigsten international tätigen Banken in London der British Bankers’ Association (BBA), der Interessenvertretung der Banken in Großbritannien, zu welchen Zinssätzen sie am Markt Gelder von anderen Banken aufnehmen beziehungsweise angeboten bekommen. Daraus ermittelt die BBA den LIBOR-Zinssatz (London Interbank Offered Rate) für zehn verschiedene Währungen und für verschiedene Laufzeiten der Anlagen bzw. Kredite (bis zu einem Jahr). Es sind also keine Marktzinssätze aus tatsächlich durchgeführten Geschäften, sondern lediglich Angebote der Banken an andere Banken! Die Nennungen der Banken werden nicht auf ihre Richtigkeit überprüft.

Die systematischen Manipulationen des LIBOR sollen in dem Zeitraum von 2005 bis 2009 stattgefunden haben. Weltweit sollen 20 Banken beteiligt gewesen sein. Zum harten Kern sollen Mitarbeiter der Banken HSBC, Crédit Agricole, Société Générale und der Deutschen Bank zählen, die inzwischen suspendiert oder entlassen worden sind.

Finanzierungskosten verschleiert
 

Barclays hatte - als bisher einzige Bank - bereits ihre Manipulationen gestanden und sich mit den britischen und amerikanischen Finanzaufsichtsbehörden auf eine Strafe von 290 Millionen Pfund (367 Mio. Euro) geeinigt. Die Deutsche Bank hat in einigen Ländern Kronzeugenstatus beantragt und erhalten und erwartet davon eine niedrigere Strafe.

Mit der Manipulation konnten die beteiligten Banken ihre Finanzierungskosten verschleiern (stellten sich also in der Finanzkrise besser dar) - und nebenbei zusätzliche Gewinne erwirtschaften. Die beteiligten Mitarbeiter in den Banken steigerten durch höhere Handelsgewinne ihre Boni.

Den Schaden aufgrund der Manipulationen trugen Anleger und Banken: Anleger haben verloren, weil sie geringere Zinsen erhalten haben, die anderen Banken haben verloren, weil ihre Kreditnehmer zu niedrige Zinsen gezahlt haben.

Nach neuesten Schätzungen könnte der Skandal die gesamte Branche am Ende zwischen 20 und 40 Milliarden Dollar kosten. Neben den Strafzahlungen drohen vor allem Sammelklagen von Anlegern und anderen Banken auf Schadensersatz. Der Schaden für die Weltwirtschaft soll sich auf rund 17,1 Milliarden Dollar (14 Mrd. Euro) belaufen.

Doch steht man noch am Anfang der Untersuchungen: Derzeit ermitteln die Behörden in den USA, Kanada, Europa und Japan. Die deutsche Bankenaufsicht hat eine Sonderprüfung bei der Deutschen Bank eingeleitet. Ergebnisse sind noch nicht bekannt. In den USA und Großbritannien befassen sich zudem Ausschüsse der Parlamente mit der Aufklärung. Täglich werden neue Informationen bekannt, die das Ausmaß der Manipulationen vergrößern.

Haben die Aufsichtsbehörden geschlafen?
 

Die Manipulation des LIBORs durch einige Banken ist allein schon ein Skandal. Doch tragen nur die beteiligten Banken die Verantwortung? Haben die Aufsichtsbehörden (wieder) nichts gemerkt?
 

  1. Bereits im Juni 2008 hatte die US-amerikanische Notenbank (Federal Reserve Bank) die britische Bankenaufsicht und das britische Finanzministerium auf LIBOR-Manipulationen seit Herbst 2007 hingewiesen und zahlreiche Vorschläge für Änderungen unterbreitet. Bankenaufsicht und Regierung wussten also von den Manipulationen. Sie gingen aber nicht dagegen vor, sondern leiteten die erhaltenen Informationen nur an die BBA weiter. Auch die von der US-Notenbank vorgeschlagenen Verbesserungen ließen sie weitestgehend unberücksichtigt.

  2. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise im Oktober 2008 rief der Vizechef der Bank of England (also der britischen Notenbank) Paul Tucker den damaligen Leiter des Investmentbankings (und späteren Chef) von Barclays Bob Diamond an. Barclays ist die zweitgrößte Bank in Großbritannien. Die britische Notenbank wunderte sich über die gemeldeten Zinssätze von Barclays, die höher lagen als die der anderen Banken. Nach den von Diamond jetzt veröffentlichten Gesprächsnotizen drängte Tucker auf Druck politischer Stellen Barclays dazu, einen niedrigeren LIBOR-Wert zu nennen, um an den Finanzmärkten nicht für noch mehr Nervosität zu sorgen. Und so meldete Barclays danach niedrigere Zinssätze. Den Inhalt des Telefonats bestreitet Tucker selbstverständlich (Tucker will im nächsten Jahr Nachfolger des derzeitigen Notenbankchefs Mervyn King werden.). Fest steht aber, dass seit Beginn der Finanzkrise die Bank of England immer wieder mit Barclays-Beschäftigten über den LIBOR gesprochen hatte und sie von ihnen darauf hingewiesen wurden, dass Barclays und andere Banken zu niedrige Zinssätze meldeten.

  3. Außerdem wusste selbstverständlich auch die Bank of England, dass - insbesondere zu Beginn der Finanzkrise - der Interbankenmarkt, auf dem sich die Banken refinanzieren, zusammengebrochen war und somit kaum Kredite zwischen den Banken vergeben wurden. Damit war ihr auch klar, dass den gemeldeten Zinssätzen keine Geschäfte zugrunde lagen und somit ohne Bezug zur Realität beliebige Zinssätze genannt werden konnten.
     

Daher erscheint die von der Bank of England und der britischen Finanzmarktaufsicht (Financial Services Authority, FSA) behauptete Ahnungslosigkeit nicht überzeugend. Es ist durchaus sehr nachvollziehbar, dass die britische Notenbank die Nennung zu niedriger Libor-Zinswerte wissentlich durchgehen ließ, um die damals extrem nervösen Finanzmärkte nicht weiter zu destabilisieren.

Niedrige LIBOR-Sätze lagen aber nicht nur im Interesse der Bank of England. Der Finanzsektor ist die dominante Branche in Großbritanniens Volkswirtschaft, dessen Wanken jede britische Regierung in Panik geraten lässt. Somit ging es auch um die Rettung des Finanzplatzes London, sodass auch die damalige Labour-Regierung über das Stillhalten der Bank of England froh sein konnte oder es sogar forderte. Zusätzliche Verwerfungen hätten die Rettungskosten für die britischen Banken noch weiter in die Höhe getrieben, die den britischen Staat bisher mehr als eine Billion Pfund gekostet haben.

Banken wollen Skandal herunterspielen und abwickeln
 

Aktuell versuchen einige der betroffenen Banken, mit den Regulierungsbehörden eine Gruppenlösung zu vereinbaren, um eine öffentliche Bloßstellung wie bei Barclays zu vermeiden, die aufgrund ihres Eingeständnisses im Mittelpunkt der Affäre steht.

Fazit: Banken haben sich – wie immer – bedient und die Aufsichtsbehörden haben – wie immer – zugeschaut beziehungsweise es sogar gebilligt.

Inzwischen haben die Notenbanken akzeptiert, dass die Meldung von Zinssätzen, zu denen eine Bank bereit ist, Geschäfte abzuschließen, manipulationsanfällig ist. Da helfen auch keine Strafandrohungen. Derzeit überlegen die Notenbanken, grundlegende Reformen des LIBOR-Systems vorzunehmen. Doch es wird auch aktuell darüber nachgedacht, den LIBOR abzuschaffen und andere Indizes zu Referenzzinssätzen auszubauen.

Übrigens wird auch der EURIBOR (Euro Interbank Offered Rate), ebenfalls einer der wichtigsten Referenzzinssätze auf den internationalen Kapitalmärkten für Interbankengeschäfte in Euro, über eine Befragung von Banken ermittelt. Hier bahnt sich inzwischen der nächste Skandal an. Ein kleiner Kreis von Händlern soll ihn ebenfalls manipuliert haben. Durch konzertierte Aktionen gelang es ihnen in dem Zeitraum 2005 – 2007 in zahllosen Fällen, den EURIBOR, der aus den Angaben von 43 Banken täglich ermittelt wird, durch Meldungen – je nach zuvor eingegangenen Derivatepositionen (Zinsterminkontrakte) – zu niedriger oder zu hoher Zinssätze um einen oder mehrere Basispunkte nach unten oder oben zu ziehen und so hohe Gewinne – und damit Boni – zu erzielen. Davon sollen allerdings ihre Vorgesetzten nichts gewusst haben.