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Lesen gegen das Vergessen

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Reiner Schöne (links) und Siegfried Wein beim "Lesen gegen das Vergessen" am 10. Mai 2016 auf dem Berliner Bebelplatz; auf der Bühne spielt Tobias Morgenstern Akkordeon.

 

Von Gisela Zimmer

 

Ausgelöscht sollte es werden: das gedruckte Wort, die Freiheit des Denkens, die Poesie, die  Schönheit von Sprache – damals am 10. Mai 1933 mitten in Berlin, auf dem damaligen Opernplatz. An diesem Tag gingen unter anderem die Bücher von 24 deutschen Schriftstellern und Dichtern in Flammen auf. Unter dem Gejohle von Studenten in braunen Uniformen und den Tiraden des Nazi-Propagandaministers Goebbels. Mittendrin stand ein einziger dieser von nun an „unerwünschten und verbotenen Autoren“ - Erich Kästner. „Es war widerlich“ wird er später über diesen Tag schreiben, auch über das Gefühl, „ein verbotener Schriftsteller im eigenen Vaterland“ zu sein. Beim „Lesen gegen das Vergessen“ am diesjährigen 10. Mai, 83 Jahre nach der eingebrannten Nacht der Büchervernichtung, holte Hermann Simon, langjähriger Direktor des Centrum Judaicum in Berlin, diesen Kästner-Text in die Erinnerung zurück. Eingeladen dazu hatte die Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, und Gesine Lötzsch präsentierte traditionell und professionell die geladenen Künstler und Prominenten aus Politik und Gesellschaft.

Ruth Hohmann, die Grande Dame des Jazz, zählte beispielsweise dazu. Schmächtig ist sie, klein von der Größe her, auch hat sie das achte Jahrzehnt längst überschritten, ihre Stimme aber weht weit über den Platz - mal rau, dann wieder sanft und zart. Der Virtuose auf dem Akkordeon Tobias Morgenstern ist dabei, auch Reiner Schöne, Schauspieler und Sänger, der im politisch brisanten Jahr 1968 die DDR verließ. „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“, zitiert er Friedrich Schiller und singt von „Demokratie, die hinter Stacheldraht nicht blühen kann“. Tino Eisbrenner hält es mit Bert Brecht, rezitiert und singt Texte, die einst dem Feuer übergeben wurden, und doch immer noch oder schon wieder stimmen. Jenny Erpenbeck, gerade für ihre Wortkunst mit dem Thomas-Mann-Preis geehrt, lässt Johannes R. Becher über „Abschied“ und „Heimkehr“ sprechen, geschrieben nach der Emigration, zurück in der fremd gewordenen Heimat, wo aus dem Lyriker ein Kulturminister wird. Schauspielerin Walfriede Schmitt erntet Heiterkeit mit Tucholskys „Älterem, aber leicht besoffenen Herrn“ und Jenny James laFleur, schon im letzten Jahr als Poetry Slamerin dabei, spielt mit dem Wort Pass-Port: der Pass als „Eintrittskarte zur Welt“. 

Bücher vernichten, das gab es leider nicht nur 1933, erinnert Liedermacher Reinhold Andert das Publikum. Er hat ein schmales Bändchen aus dem Jahr 1958 mitgebracht. Herausgeber ist Stephan Hermlin. Darin stellte der Schriftsteller unbekannte, junge Autoren vor, die von Nationalsozialisten hingerichtet wurden. Das Buch landete 1990, wie Millionen andere aus dem DDR-Großbuchhandel auch, auf einer Müllkippe bei Leipzig. Schauspieler Ernst Schwill liest Erich Kästner, und Siegfried Wein, einst Intendant des Kinder- und Jugendtheaters an der Parkaue, stellt den vergessenen Leo Heller vor. Ein gebürtiger Wiener, im Berlin der 1930er Jahre lebend und schreibend, gibt es 1938 ein letztes Lebenszeichen von ihm: einen schmalen Gedichtband. 

Klaus Lederer, der linke Spitzenkandidat für die Berlin-Wahl im Herbst, nimmt das Publikum mit auf Heines „Harzreise“, Gregor Gysi erzählt von Arnold Zweig und von „Recht“, das scheinbar per Gesetz richtig ist und von „Gerechtigkeit“, die offensichtlich „gewogen“ werden darf. 

Beate Klarsfeld, erst letzten Sommer mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt, fragt: Wo beginnt Barbarei, wohin führt sie? Einst brannten Bücher, jetzt brennen auch Flüchtlingsunterkünfte. Und Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau spricht mit Stefan Zweig, vom „Nationalsozialismus, der sich vorsichtig und in kleinen Dosen durchsetzte“. Immer so viel, bis die Menschen die nächste Dosis hinnahmen. Sie erzählt von einer Reise nach Ungarn, von den scheinbar „kleinen rassistischen Ausfällen“ gegen Sinti und Roma. Das war im Jahr 2010. Und Ungarn heute? Im Mai 1958, ein Vierteljahrhundert nach der Bücherverbrennung mahnte Erich Kästner, einen „Schneeball“ könne man noch zertreten, „die Lawine hält keiner mehr auf“. „Es ist keine Zeit mehr zu warten“, sagt Petra Pau, bevor sie die Lesebühne verlässt.  

 

linksfraktion.de, 11. Mai 2016