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Kranke sollen kostenlos behandelt werden – immer

Im Wortlaut von Harald Weinberg,

Von Harald Weinberg, für DIE LINKE Obmann im Bundestagsausschuss für Gesundheit

 

 

Piercer und Tätowierer in einer Expertenanhörung des Gesundheitsausschusses, die die DIE LINKE verlangt hat? Was war geschehen? Seit April 2007 gibt es die Selbstverschuldens-Regelung, nach der Menschen, die durch eine medizinisch nicht notwendige Maßnahme, wie beispielsweise ein Piercing, eine Tätowierung oder eine Schönheits-OP eine Folgeerkrankung davontragen, an den Kosten der Behandlung beteiligt werden müssen. 2008 wurde die Regelung konkreter: Nun sollten nur noch genau diese drei Sachverhalte – Schönheits-OPs, Tätowierungen und Piercings – derart sanktioniert werden, das Wort „beispielsweise“ fiel im Gesetz weg. Die Aufzählung sollte abschließend sein, so der Wille der damaligen großen Koalition.

Das hat Folgen: In der Anhörung erläuterte der Sachverständige Matthias Bernzen, Richter am Sozialgericht Düsseldorf und Experte in dieser Angelegenheit, dies den Abgeordneten und den anderen Sachverständigen an einem einprägsamen Beispiel: Wer ein „tongue cutting“ machen, also seine Zunge längs aufschneiden lässt, damit sie eine amphibische Form einnimmt und infolgedessen krank wird, dem muss die Krankenkasse die Behandlung voll bezahlen. Wer sich aber ein Zungenpiercing stechen lässt und die Zunge entzündet sich, den müssen die Kassen an den Behandlungskosten beteiligen. Das widerspricht dem Gleichheitsprinzip des Grundgesetzes, denn vergleichbare Sachverhalte müssen auch vergleichbar behandelt werden.

Wenn man das Selbstverschuldensprinzip möchte, warum sollten die Kassen dann nur einige Gepiercte und Tätowierte, und nicht sämtliches Selbstverschulden bestrafen. Hier kommen in Frage: Menschen die zu wenig und solche, die zu viel Sport treiben, Menschen, die den falschen Sport machen, zum Beispiel Freizeitkicker. Raucher, Trinker, Konsumenten sonstiger Drogen, Über- und Untergewichtige, Motorradfahrer, überhaupt selbstverschuldete Verkehrsunfälle, Kranke, die nicht rechtzeitig zum Arzt gehen. Diese Liste kann ließe sich beliebig ausdehnen und der jetzige Paragraph ist der Türöffner dafür.
Letztlich wäre jede und jeder betroffen. Das wäre eine völlige Degeneration der gesetzlichen Krankenversicherung und deshalb lehnt die LINKE das Selbstverschuldensprinzip ab. Wer Verhalten bestraft, statt nach Ursachen zu fragen, macht Politik gegen die Menschen. Außerdem bräuchten die Kassen eine Gesundheitspolizei, die immer nach Anhaltspunkten sucht, ob der Versicherte nicht doch selbst schuld an seiner Krankheit ist.

Die Selbstverschuldens-Regelung hat Anfang 2012 eine ganz neue Brisanz bekommen: Da wurde bekannt, dass sich Tausende Frauen Brustimplantate einsetzen ließen, die fehlerhaft und gesundheitsgefährdend sind. Diese Implantate wurden von einer betrügerischen Firma produziert, die billiges Industriesilikon statt medizinischem Silikon verwendete. Die Implantate müssen ausgetauscht werden. Ein Austausch kostet um die 6000 Euro. Da die Firma aber pleite ist, ist von ihr nichts mehr zu holen. Ihre Haftpflichtversicherung zahlt nicht, weil kriminelles Handeln zugrunde lag. Die Ärzte zahlen nicht, weil sie nicht wussten, was sie da einsetzten. Nun geht die Kasse in Vorleistung und ist gesetzlich gezwungen von den versicherten Frauen das Geld teilweise zurückzufordern. Das will niemand, auch nicht die Befürworter der Selbstverschuldensregelung. Das ist aber die einzig zulässige Konsequenz aus dem Gesetz. Denn Gesetze sind allgemeingültig und gelten nicht nach Belieben.

Übrigens: Die Regelung umfasst auch Erkrankungen aufgrund eines ganz normalen Ohrrings. Denn, wie sagten es die Kassen so schön umständlich bei der Anhörung: „Unter Piercing wird das Stechen eines Kanals in bestimmte Körperstellen und das Einfügen eines Gegenstandes bezeichnet. Vor diesem Hintergrund dürfte eine Unterscheidung zu erheblichen Abgrenzungsproblemen und zu einer schwer begründbaren Ungleichbehandlung führen.“ Das hat mittlerweile auch die Bundesregierung bestätigt, und noch mehr: Auch bei religiös motivierten Körperveränderungen greift das Selbstverschuldensprinzip.

linksfraktion.de, 27. April 2012