Analyse. Das offizielle Gutachten zum Berliner S-Bahn-Desaster blendet wesentliche Ursachen für die Krise aus
Der Bericht der Kanzlei Gleiss Lutz zur S-Bahn Berlin vom 23. Februar 2010 wirkt für Außenstehende in vielerlei Hinsicht überzeugend: Er ist kompakt, auch für Laien relativ gut lesbar; gut aufbereitet und stringent präsentiert. Es gibt jedoch einen seltsamen Bruch. Während bis zur Seite 41 zum Teil krasse Fehlleistungen von Herstellern, Lieferanten und dem eigentlichen Unternehmen S-Bahn GmbH dokumentiert werden, wird der Bericht ab Kapitel 4 »Konzerneinfluß und Fehler der Sanierungsprogramme« ausgesprochen schmallippig.
In diesen nun folgenden zwanzig Seiten wird die gewaltige interne »Modernisierung« weitgehend gutgeheißen. Es gibt keine markante Kritik an der Schließung von Instandhaltungseinrichtungen. Der massive Beschäftigungsabbau im Zeitraum 2003 bis 2009 taucht nicht einmal auf. Wohl aber vermerken die Herren Anwälte kritisch, daß die Belegschaft aus ihrer höchst kompetenten Sicht zu alt sei. »Das Durchschnittsalter der Beschäftigten der S-Bahn ist kontinuierlich gestiegen, von 40 Jahren in 2000 auf 45,1 Jahre in 2008, wobei das Durchschnittsalter im Bereich Fahrzeuginstandhaltung 2008 sogar 47,1 Jahre betrug. Dies wohlgemerkt in einem Unternehmen, in dem die Mehrzahl der Beschäftigten mit körperlicher Arbeit verbundene Tätigkeiten ausführt, Triebzüge fährt und instandhält« (S. 46).
Der Abbau des S-Bahn-Personals auf den Bahnhöfen wird positiv wie folgt kommentiert: »Das OSB (Rationalisierungsprogramm Optimierung S-Bahnen) zielte auf eine Effizienzsteigerung des Betriebsprozesses ab, vor allem über eine Abfertigung der Züge durch die Triebfahrzeugführer (…) Hierin wird ein Potential des Abbaus von wenigstens 503 Mitarbeitern gesehen« (S. 47). Die Bilanz lautet dann auch: »In vielen Bereichen war OSB ein Erfolg.« Noch deutlicher auf S. 60: »Das vom DB-Konzern (…) initiierte Optimierungsprogramm OSB (ist) für die aktuellen Betriebsstörungen nicht verantwortlich.« Es habe vor allem »Umsatzsteigerungen und weitere Verbesserungen« mit sich gebracht. Grundsätzlich seien die Gewinne der S-Bahn quasi nur durch höhere Einnahmen aus den Erlösen im Personenverkehr erzielt worden. »Der Rückgang der Instandhaltungskosten war dafür nur von untergeordneter Bedeutung» (S. 48).
Das ist schlicht die Unwahrheit. Die Schließung von Werkstätten, der Abbau der Belegschaft, die Verschrottung von 132 S-Bahn-Wagen - all das war explizit Teil des OSB. Der Umstand, daß das Unternehmen jetzt keine Reservekapazitäten mehr hat, ist direkt diesem Programm zu verdanken. Beispielsweise heißt es in einem Dokument vom 6. Mai 2004: »Es soll sichergestellt werden, daß Ende 2006 ein jährliches Einsparpotential von 40 Millionen Euro von den S-Bahnen (Berlin und Hamburg - d. Verf.) realisiert wird.« Es ging nicht um Mehreinnahmen durch mehr Fahrgäste, sondern um »Sparen, bis es quietscht«.
Konzern und DB Regio ungeschoren
Die S-Bahn Berlin GmbH gehört zu 100 Prozent der DB Regio AG, die wiederum eine Tochter der in Bundeseigentum befindlichen Deutschen Bahn AG ist. Die operative Geschäftsführung für die S-Bahnen wurde einer gesonderten Gesellschaft, der DB Stadtverkehr, übertragen; allerdings: nicht ein Prozent des Eigentums. Seit Frühjahr 2008 ist alles nochmals komplizierter: die Subholding DB ML (Mobility Logistics) ist zwischen DB AG und alle Schienenverkehrsbetreiber-Unternehmen sowie Schenker geschaltet; die Subholding kontrolliert also die DB Regio AG. Die DB ML ist von der Bundesregierung zur Teilprivatisierung vorgesehen - also mit ihr DB Regio und die S-Bahnen in Berlin und Hamburg.
Nun gibt es im Bericht fast keinerlei Kritik am Konzern DB AG oder an der DB Regio. Das negative Einwirken derselben auf die S-Bahn GmbH wird nicht thematisiert. Lediglich ein paar Probleme wie Kommunikationsmängel (S. 50 f.), unzureichende »Audits« der Werkstätten (S. 51) und eine problematische »Unternehmenskultur« (S. 52) werden angesprochen.
Sogar höchst bedenkliche Praktiken wie die - von oben angeordnete oder zumindest abgesegnete - »Spreizung« der Wartungsintervalle werden lässig kommentiert: »Die früher bei der S-Bahn praktizierten Verlängerungen von Wartungs- und Instandhaltungsfristen und von Laufleistungen bis zur Hauptuntersuchung wurden den Anforderungen an einen sicheren und zuverlässigen Eisenbahnbetrieb nicht gerecht« (S. 60). Tatsächlich handelte es sich hier schlicht um ein kriminelles Vorgehen - um Verstöße gegen klare Vorgaben, auch solche der Eisenbahnaufsicht EBA, und um ein Spiel mit dem Leben und der Gesundheit der S-Bahn-Fahrgäste und - nicht zuletzt - der S-Bahn-Begleitpersonale.
Besonders originell ist, daß Ulrich Homburg, Vorstand Personenverkehr bei der Deutschen Bahn AG - immer wieder als derjenige auftritt, der die Kritik an der S-Bahn Berlin GmbH vorträgt und unter anderem »Konsequenzen« zieht. Homburg war bis Herbst 2009 Vorstandsvorsitzender der DB Regio. Die aus der S-Bahn GmbH herausgepreßten Sondergewinne wurden direkt an die DB Regio abgeführt. Der Verweis von Homburg auf die DB Stadtverkehr als »verantwortlich für das operative Geschäft« geht ins Leere. Juristisch gesehen haben - nach Aktienrecht - der Eigentümer der S-Bahn, also DB Regio und die Konzern-Muttergesellschaft, die Verpflichtung, sich regelmäßig über den Geschäftsverlauf im allgemeinen und dessen Risiken berichten zu lassen. Der Wirtschaftsrechtler Professor Hans-Peter Schwintowski von der Humboldt Universität Berlin äußerte sich speziell vor dem Hintergrund des S-Bahn-Debakels: »Selbstverständlich hat der Vorstand der Obergesellschaft, in diesem Fall Herr Homburg, nach wie vor die Verantwortung, zwar nicht für jede einzelne Schraube im Unternehmen, aber doch für die Gesamtheit vor allem der Risiken« (rbb-Sendung vom 23.9.2009).
Diesen Zusammenhang der Gesamtverantwortung klammert der Bericht zur Berliner S-Bahn komplett aus. Dies ist - rein fachlich gesehen - im Fall einer Rechtsanwaltskanzlei ausgesprochen fahrlässig. Es kann natürlich auch Sinn machen - dann jedoch politisch.
In Manipulationen verstrickt
Die Risiken, die hier bewußt eingegangen wurden, waren hoch. Es wurde mit krimineller Energie getrickst, um vorzutäuschen, daß in der Praxis verletzte elementare Sicherheitsregeln eingehalten worden sind. Ein Beispiel aus dem Februar 2006 zeigt das besonders deutlich: Eine vom Hersteller der Ersatzradscheiben für die Baureihe 481 (BR 481) vorgelegte Berechnung zeigte, daß das Rad nicht für die laut Norm zu erwartenden Belastungen ausgelegt war. Darauf wurde - was rechtlich möglich ist - dazu übergegangen, die realen betriebsbedingten Belastungen zu ermitteln. Dazu wurden die Ergebnisse von Meßfahrten auf nur zwei Strecken (Potsdam-Lichtenberg und Potsdam-Wannsee) ausgewertet. Und siehe da: Die hieraus resultierenden zu erwartenden Belastungen lagen deutlich niedriger - die Radscheiben konnten eingesetzt werden. Obgleich die derart ausgerüsteten S-Bahnen im gesamten S-Bahn-Netz verkehren und es in diesem Abschnitte mit deutlich höheren Belastungen gibt (siehe S. 16 f.).
Das Beispiel ist nicht nur wegen des hohen Grads an Verantwortungslosigkeit interessant; es ist auch hinsichtlich der Verstrickung der Konzernspitze beispielhaft. Konzernintern war für die »fachtechnische Freigabe« der Ersatzräder die DB Systemtechnik (in Minden) zuständig. Diese war an all diesen Manövern, die Räder belastbar auszuweisen, beteiligt. DB Systemtechnik ist jedoch direkt dem Mutterkonzern zugeordnet.
Generell taucht in dem Bericht immer wieder die Problematik auf, daß diejenigen, die kontrolliert werden müssen, sich selbst kontrollieren. Sei es, daß der Hersteller mangelhafter Radsatzwellen und Räder diese selbst prüft, sei es, daß die DB-Abteilung DB Systemtechnik (in Kirchmöser bzw. Minden) die Tochter S-Bahn prüft.
Das EBA wird in dem Bericht für unzureichende Zulassungsprüfungen usw. mitverantwortlich gemacht. Es wird aber in demselben Bericht auch deutlich, daß das EBA unzureichende Einflußmöglichkeiten hat. Vor allem, daß immer wieder seitens der S-Bahn oder der DB Systemtechnik gegen EBA-Auflagen verstoßen wurde. Dies erfolgte sogar noch im Zeitraum Mai bis Oktober 2009, also zur Zeit des Bahnmanagements, als ein Rißbefund an einem Radsatz (vom 17.7.2009) dem EBA verschwiegen und erst am 14. Oktober 2009 gemeldet wurde (S. 13).
In dem Bericht werden Themen behandelt, wie sie auch in der allgemeinen Debatte bei den ICE-Radsatzwellen auftauchen. So die Probleme mit dem Werkstoff EA4T und die Erprobung der »hochfesten Stähle«, u.a. mit dem Werkstoff 34CrNiMo6. Das EBA mußte auch in Berlin aufgrund der Unsicherheit, inwieweit diese Werkstoffe sich als betriebssicher erweisen, vielfach extrem kurze Wartungsintervalle für Räder und Radsatzwellen aus diesen Werkstoffen ansetzen (siehe S. 17 f.). Damit wird deutlich: Das Thema (unsichere) Radsatzwellen erstreckt sich inzwischen auf den gesamten Bereich der Eisenbahn: den Nahverkehr (spätestens mit der S-Bahn Berlin), den ICE-Verkehr (spätestens seit dem Achsbruch in Köln am 9.7.2008) und den Güterverkehr (Achsbrüche beim Unglück in Viareggio; neue Güterverkehrsunglücke bei Hamm im Dezember 2009).
Ziemlich eindeutig ist die Aussage, daß das Hauptverschulden beim Hersteller oder bei den Herstellern liegt. Dies steht in deutlichem Gegensatz etwa zum ARD-rbb-Film »Endstation Chaos« vom November 2009. In diesem wird die Schuld zu weitgehend gleichen Teilen beim Hersteller und beim Unternehmen S-Bahn gesehen und besonders der Themenkomplex »Transfer von S-Bahn-Mitteln zum Mutterkonzern« analysiert. Vergleichbar argumentiert der Betriebsratsvorsitzende Heiner Wegner, den der Prüfbericht »richtig wütend« macht und der darauf verweist: »Die S-Bahn durfte gar keine eigenen Entscheidungen treffen.« Wegner unterstreicht, daß die Beschäftigtenvertretung wiederholt auf die extremen Mißstände vor allem im Bereich der Wartung verwies: »Der damalige Aufsichtsratschef Hermann Graf von der Schulenburg wurde von mir und keinem Vize im Herbst 2008 persönlich über die Mißstände informiert.« Als Ergebnis habe von der Schulenburg mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen gedroht (Tagesspiegel vom 25.2.2009).
Die Orientierung auf die Hersteller als die allein Schuldigen deckt sich mit der Orientierung, wie sie der damalige Bahnchef Hartmut Mehdorn ab Juli 2008 (ICE-Achsbruch in Köln) vorgab und die weitgehend von seinem Nachfolger Rüdiger Grube übernommen wurde. Den Hintergrund bilden dazu Großaufträge der Bahn, vor allem der Großauftrag für das fünf Milliarden Euro schwere Projekt ICX (Ersatz für die IC-Garnituren). Auf diese Weise läßt sich das ICX-Angebot, das vor allem Siemens - und in Teilbereichen Bombardier - abzuliefern haben, nochmals drücken.
Großmann kontrolliert
Ein derart mit den Interessen der Konzernspitze konformer Bericht läßt aufhorchen. Spätestens hier stellt sich die Frage nach dem Charakter der Kanzlei Gleiss Lutz, die den 60-Seiten-Bericht erstellte. Es handelt sich um ein Büro mit 250 Anwälten, verteilt auf acht Städte in Europa und mit einem - für eine Kanzlei - extrem hohen Umsatz von 109 Millionen Euro. Die Kanzlei rühmt sich, für mehr als zwei Drittel der DAX-Konzerne aktiv zu sein. Und: Gleiss Lutz ist nach eigenen Angaben auf das »M&A-Business«, auf Unternehmensübernahmen und Zusammenschlüsse, spezialisiert - also beispielsweise für eine bald wieder anstehende Privatisierung der Bahn. Es wäre nicht die erste Hilfestellung für die DB AG. Der für Gleiss Lutz aktive ehemalige Verteidigungsminister Rupert Scholz (CDU) warf sich noch im März 2009 - auf dem Höhepunkt der Bahn-Spitzelaffäre - für den Konzern ins Zeug und unterstrich, daß die Bahn »durch Hartmut Mehdorn glänzend geführt« werde (zit. n. Tagesspiegel vom 25.2.2010).
Interessant ist auch das Timing des Berichts. Die Bundestagsabgeordneten erhielten diesen am Dienstag, dem 23. Februar - einen Tag vor der Sitzung des Verkehrsausschusses mit dem Tagesordungspunkt S-Bahn Berlin. Der Spiegel zitierte bereits tags davor (22.2.) aus dem Bericht wörtlich - der Redaktion der Wochenzeitschrift lag der Bericht also bereits am Freitag, dem 19. Februar, vor. Als der Verkehrsausschuß fünf Tage später tagte, waren die DB-AG-internen Entscheidungen bereits gefallen: Danach soll die S-Bahn in die DB Regio integriert - und die zwischengeschaltete DB Stadtverkehr ausgeschaltet werden. Das heißt, daß hier ein trickreich abgestimmtes Spiel gespielt und der Bundestag an der Nase herumgeführt wird.
Der Bericht nennt als Verantwortliche neben Bombardier als Lieferanten für die S-Bahn-Garnituren auch die Radsatzfabrik Ilsenburg GmbH (RAFIL) für die gelieferten Räder und Radsatzwellen (S. 14). Dezent verschweigt die Kanzlei Gleiss Lutz entscheidende Zusammenhänge. Tatsächlich war die Ilsenburg GmbH oder RAFIL nur bis 1991 ein unabhängiges Unternehmen. Damals wurde diese Firma von dem in der BRD führenden Radsatzhersteller VSG Vereinigte Schmiedewerke GmbH in Bochum übernommen.
Dieses Unternehmen wurde nach der Eisenbahnkatastrophe in Eschede (1998) von der Georgsmarienhütte übernommen, wobei es zugleich sinnigerweise eine Namensänderung in Bochumer Verein gab. Die Georgsmarienhütte wiederum gehört Jürgen R. Großmann - zu 100 Prozent und privat. Großmann ist im Hauptberuf Vorstandsvorsitzender des Energiekonzerns RWE. Er ist Euro-Milliardär und einer der Reichsten im Lande. Und - er ist seit geraumer Zeit Mitglied des Aufsichtsrats der Deutschen Bahn AG.
Das heißt: Der Privateigentümer der zwei in Europa führenden Radsatz- und Radwellenhersteller Bochumer Verein und RAFIL, die beide zugleich Haupt- und Hoflieferanten der DB AG und der S-Bahn Berlin sind, »kontrolliert« die DB AG. Während die Bahn AG und die S-Bahn Berlin GmbH Interesse an dauerfesten Radsatzwellen und an preisgünstig zu beziehenden Radsatzwellen haben müssen, sind die Interessen beim Eigentümer der genannten Radsatzwellen-Firmen und beim Controller der DB AG Großmann deutlich anders gewichtet. Ihm kann es »nur« darum gehen, daß seine Unternehmen weiter Hauptlieferant der DB AG bleiben. Nicht unrecht kann ihm sein, wenn zu überhöhten Preisen geliefert wird. Und wenn dabei gelegentlich Produkte in suboptimaler Qualität geliefert werden, dann ist das solange nicht geschäftsschädigend, wie man daran verdient und das nicht ruchbar wird.
Großmann ist äußerst gut »vernetzt«, wie man heutzutage sagt. Als er 2007 in New York von der Atlantik-Brücke den Vernon A. Walters Award verliehen bekam, hielt Exkanzler Schröder die Hauptrede; es sprach auch der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff. Zu den Gästen zählten Joseph Fischer, der Exaußenminister, der ehemalige sächsische Ministerpräsident Biedenkopf und Exinnenminister Otto Schily (Bericht in der GM-Hütte Betriebszeitung Glück auf! 2/2007). Im Rahmen der aktuellen Debatten um eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke ist Großmann als RWE-Chef wiederum ein wichtiger »Gesprächspartner« der Bundeskanzlerin und des Wirtschaftsministers.
Und im Aufsichtsrat der Bahn sitzt Großmann ja nicht als irgendwer - er sitzt als Vertreter der Unternehmerseite, also des Bundes, in diesem Gremium. »Eigentlich« hat der Bund als 100prozentiger Eigentümer der DB AG Anspruch auf 50 Prozent der Aufsichtsratssitze - und faktisch auf die Bestellung des Aufsichtsratsvorsitzenden, der gegebenenfalls mit doppeltem Stimmrecht dort wirkt. Jeder normale Eigentümer nimmt dieses Recht voll in Anspruch. Doch der Bund ist so großzügig, Leute wie Großmann mit den beschriebenen Spezialinteressen in dieses wichtige Gremium zu berufen.
S-Bahn nicht zur DB AG
Wenn jetzt die DB AG ankündigt, sie wolle die S-Bahn Berlin »besser kontrollieren« und diese deshalb in die Tochter DB Regio integrieren, dann ist das definitiv der falsche Weg. Eine Bahn, die auch unter Rüdiger Grube auf dem Weg an die Börse ist, wird eine integrierte S-Bahn Berlin über kurz oder lang ebenso behandeln, wie sie seit 2002 behandelt wurde, also seit dem Beschluß zum Bahnbörsengang. Vor allem wird eine S-Bahn Berlin auf diese Weise in die Privatisierung einbezogen. Dabei lebt die S-Bahn in erster Linie von Bundesmitteln - den Regionalisierungsgeldern (die an die Länder Berlin und Brandenburg und von dort zur S-Bahn gehen). Im Zeitraum 1994 bis 2008 wurden 90 Kilometer S-Bahn-Trassen neu aufgebaut. Dafür wurden 2,2 Milliarden Euro investiert - 1,6 Milliarden waren Bundesmittel. Im Fall einer (Teil-)Privatisierung werden die privaten »Investoren« von diesen Renovierungsausgaben aus Steuergeldern profitieren.
Ein alternatives Konzept für die Berliner S-Bahn, das die Interessen der Fahrgäste und der Beschäftigten - und selbstverständlich die Sicherheit im Schienenverkehr - ins Zentrum stellt, könnte aus sechs Punkten bestehen.
1. Die Beherrschungsverträge zwischen DB AG, DB Regio, DB Stadtverkehr und S-Bahn Berlin sollen sofort aufgehoben werden. Tatsächlich ist die S-Bahn-Misere darauf zurückzuführen, daß in großem Maßstab Steuergelder (Regionalisierungsgelder) systematisch in Richtung DB Mutterkonzern zur Unterstützung des Börsengangkurses transferiert wurden.
2. Der Vertrag zwischen dem Land Berlin und der DB AG zum Betreiben der S-Bahn soll neu verfaßt und verhandelt werden. In einem solchen Vertrag muß die S-Bahn unzweideutig dem Gemeinwohl verpflichtet und festgelegt sein, daß die Einnahmen der S-Bahn im Unternehmen S-Bahn verbleiben. Im Rahmen dieser Neuverhandlung muß eine Lösung für die technische Misere gefunden werden. Dabei muß die DB AG finanziell dafür geradestehen, daß in ihrer Verantwortung der rechnerische Niedergang der S-Bahn Berlin erfolgte.
3. Es soll geprüft werden, inwieweit bei der S-Bahn Berlin nicht auch der Fahrweg Teil des Unternehmens sein muß. Dazu müßte der Fahrweg aus der DB Netz AG herausgelöst werden. Da dieser Fahrweg rein technisch gesehen einmalig in Deutschland (wenn nicht im Weltmaßstab) ist - mit einem speziellen Strom- und Sicherungssystem - ist eine solche Herauslösung auch rein technisch gesehen vorstellbar. Generell gilt: Überall dort, wo Fahrweg und Betrieb eine Einheit bilden, ist die Bilanz deutlich besser als bei einer Trennung von Fahrweg und Betrieb durch unterschiedliche Unternehmenseinheiten. Dies trifft zu auf die Usedomer Bäderbahn, auf die Karlsruher Verkehrsbetriebe mit ihrem weit in den Schwarzwald reichenden Netz und auf die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB).
4. Ein Modell soll geprüft werden, bei dem das Land Berlin an der S-Bahn GmbH substantiell beteiligt wird. Hier böte sich an, daß an einer solchen Gesellschaft Land (möglicherweise vertreten durch die BVG) und DB AG jeweils zu 50 Prozent an der S-Bahn-Berlin beteiligt sind.
5. Die in den letzten Jahren geschlossenen Instandhaltungseinrichtungen sollen wieder eröffnet werden und - vor allem - ihre volle Funktionsfähigkeit zurückerhalten. Selbstverständlich muß in diesem Zusammenhang auch das entsprechende - in Quantität und Qualität - ausreichende Personal bereitgestellt werden. Angesichts des großen »inneren Arbeitsmarktes« in der DB AG - viele Bahnerinnen und Bahner sind ohne Beschäftigung - muß das zusätzliche Personal in erster Linie aus diesem Pool gewonnen werden, gegebenenfalls durch Umschulungen.
6. Die S-Bahn muß personell aufgestockt werden, nach dem Grundsatz, daß optimaler Service und ein ausreichender Sicherheitsstandard in den Bahnen und auf den Bahnhöfen dadurch gewährleistet wird, daß Menschen - S-Bahn-Beschäftigte - vor Ort und in den Zügen präsent sind. Oder, wie es der Chef der überaus erfolgreichen Usedomer Bäder-Bahn in dem Film »Bahn unterm Hammer« formulierte: »Bei uns werden Sie keinen Automaten finden. Überall bedienen Menschen Menschen.«
Von Sabine Leidig und Winfried Wolf
junge Welt, 3. März 2010
Konzerninteressen gewahrt
Im Wortlaut
von
Sabine Leidig,