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Kinderrechten mehr Gehör verschaffen

Im Wortlaut von Norbert Müller,

 

Norbert Müller, heute leiten Sie Ihre erste Sitzung als Vorsitzender der Kinderkommission des Bundestages, auch Kiko genannt. Das heißt, dass Sie ein knappes Jahr lang die Arbeitsschwerpunkte der Kiko bestimmen können. Welche Themen möchten Sie auf die Tagesordnung setzen?

Norbert Müller: In dieser Legislaturperiode werde ich der erste Vorsitzende der Kinderkommission aus den Reihen der Opposition sein. Meine Aufgabe sehe ich deshalb darin, kinder- und jugendpolitische Themen anzusprechen, denen sich die Koalition bisher nicht widmen wollte und die es im Parlamentsbetrieb gegen eine 80 Prozent Regierung zu selten in die Öffentlichkeit schaffen. Meine Schwerpunkte sind Militarisierung von Kindern- und Jugendlichen, Ursachen und Auswirkungen der massiven Kinderarmut in Deutschland und der bestürzende Zustand der chronisch unterfinanzierten Kinder- und Jugendhilfe.

Heute startet die Kommission mit einer Expertenanhörung zum Thema "Bundeswehr in Schulen und Kindergärten". Worum geht es?

Seit der Abschaffung der Wehrpflicht hat die Bundeswehr ein Nachwuchsproblem. Durch Veranstaltungen und gezielte Kampagnen wird versucht, junge Menschen für den Dienst an der Waffe zu gewinnen. Jugendoffiziere werben ab der 9. Klasse in Schulen und auf Ausbildungsmessen und erklären, dass die Bundeswehr ein Arbeitgeber wie jeder andere sei. In Kitas geht es darum, Kinder den Beruf der Eltern nahe zu bringen. Im Falle von Eltern, die Soldatin und Soldat sind, werden solche Gelegenheiten durch die Bundeswehr gerne genutzt. Positiver Erstkontakt heißt das dann, wenn Kleinkinder sich auf einen Panzer setzen dürfen. Hoch problematisch finde ich, dass die Bundeswehr jährlich um die 1200 17-Jährige an der Waffe ausbildet. Das sind circa 10 Prozent der Grundwehrdienstleistenenden. Aus meiner Sicht ist das alles kein Beitrag zu einer friedlichen Erziehung. Deshalb werden wir uns damit beschäftigen, in welchem Umfang und mit welchen Auswirkungen die Bundeswehr junge Menschen umwirbt, militarisiert und rekrutiert.

Die Kinderkommission beschäftigt sich seit längerem mit der Umsetzung von Kinderrechten in Deutschland. Wo besteht aus Ihrer Sicht noch Handlungsbedarf?

Die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) war im vergangenen Jahr das Schwerpunktthema von Susann Rüthrich von der SPD, ist aber auch für DIE LINKE ein wichtiger Ankerpunkt in der Kinderrechtsdebatte. Die Bundesrepublik hat erst im Jahr 2010, 22 Jahre nach dem Beschluss der UN-KRK letzte ausländerrechtliche Vorbehalte zurückgenommen, aufgrund derer Abschiebehaft gegen Minderjährige angewendet wurde. Doch selbst diese späte vollständige Anerkennung stellt leider noch keine Rechtsverbindlichkeit für Kinder her. In der Kiko sind sich die Vertreter*innen der Fraktionen weitgehend darüber einig, dass Rechte die sich aus der UN-KRK ableiten, wie das Recht auf soziale Sicherheit, Gesundheit und gute Bildung in das Grundgesetz gehören. Denn erst einklagbare soziale- und freiheitliche Kinderrechte verhelfen der UN-KRK zur vollen Wirkung und den Kindern zu ihren Rechten. Die Aufgabe der kommenden Zeit wird es sein, diese Position auch außerhalb der Kiko mehrheitsfähig zu machen.

Ein weiterer Schwerpunkt, den Sie in der Kiko setzen ist Kinderarmut, denn noch immer ist jedes fünfte Kind in Deutschland arm. Wie wollen Sie dieses wichtige Thema auch aus der Kommission hinaustragen? Gibt es parlamentarische Initiativen der Linksfraktion oder möglicherweise gemeinsame Vorhaben, die sich aus der fraktionsübergreifenden Zusammenarbeit mit Ihren Kolleginnen und Kollegen in der Kinderkommission entwickeln?

In einem reichen Land wie Deutschland wachsen seit Jahrzenten, je nach Region zwischen 10 und 33 Prozent der Kinder in Armut auf. In fünf Anhörungen wird die Kiko analysieren, wer von Kinderarmut betroffen ist, ob Kinderarmut eine Folge der ungleichen Vermögensverteilung und des selektiven Bildungssystems ist, welche Folgen Kinderarmut für die Betroffenen hat und welche Möglichkeiten es gibt, Kinderarmut zu überwinden. Der erste Schritt besteht darin, fraktionsübergreifende Einigung darüber zu erzielen, dass es Kinderarmut in Deutschland gibt und Armut fatale Folgen für die Entwicklung von Kindern hat. Hier legt DIE LINKE seit Jahren beharrlich den Finger in die Wunde. Ich hoffe, damit auch in die anderen Fraktionen hineinwirken zu können, denn es ist ein Skandal, dass in einem so reichen Land so viele Kinder in Armut aufwachsen müssen. Und eine gemeinsame Linie der Politik, wenigstens die Folgen von Armut abzumildern erhoffe ich mir schon. Es wird auf jeden Fall spannend und ich werde gerne über Fortschritte berichten.

Der letzte Arbeitsschwerpunkt Ihrer Amtszeit wird die Situation der Kinder- und Jugendhilfe sein. Was brennt Ihnen unter den Nägeln?

Das neoliberale Ziel eines schlanken Staates hat in den letzten 20 Jahren dazu geführt, dass ein massiver Abbau sozialstaatlicher Leistungen vollzogen wurde. Betroffen, aber noch zu leise klagend, sind weite Teile der Kinder- und Jugendhilfe und der Allgemeinen Sozialen Dienste, welche zu oft am Rande des Kollapses arbeiten. Gemeinsam mit Expert*innen wird die Kiko eine Bestandsaufnahme der Situation erarbeiten. Zu den konkreten Themen gehören dabei auch die steigende Anzahl von Inobhutnahmen, besonders restriktive und menschenverachtende Formen des Umgangs mit schwierigen Jugendlichen wie die geschlossene Unterbringung und Auslandsverbringung. Aber auch die Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge, die Chancen der Jugendhilfe im Umgang mit neofaschistischen Jugendlichen und die Situation der Beschäftigten in den Sozial- und Erziehungsberufen werden wir auf die Tagesordnung setzen.

Sie streben an, alle Anhörungen der Kinderkommission öffentlich, das heißt offen für alle Interessierten, stattfinden zu lassen. Heißt das auch, dass diejenigen, denen die Kiko eine Stimme geben soll, nämlich die Kinder und Jugendlichen, Mitsprachemöglichkeiten bekommen?

Ja, natürlich, das ist eine gute Tradition meiner Vorgängerin, auch wenn das im konkreten Fall nicht immer einfach ist. Es kommt gerade bei Kindern oftmals auf das Setting an. Auch vergangenen Jahr waren Kinder als Gäste und als Expert*innen in der Kiko, beispielsweise zur Frage der Beteiligung von Kindern an politischen Prozessen. Aber, und so ehrlich muss ich sein, die Kiko ist kein kindergerechtes Partizipationsgremium. Zum einen ist eine Sitzung der Kiko keine Situation, in der Kinder sich unbefangen äußern. Sie sitzen im Bundestag in einem großen Raum mit vielen alten Menschen, über die ihnen erzählt wurde, dass sie wichtige Abgeordnete seien. Und auch wenn die Abgeordneten und ihr Mitarbeiter alle total nett sind, kann das schon eine bedrückende Stimmung erzeugen. Hinzu kommt, dass die Kinder, die die Kiko besuchen, oftmals von Lehrern oder Erziehern ausgesucht wurden und sie ihren Text gut drauf haben. So richtig authentisch und ehrlich ist das häufig nicht. 

Geht die Kinderkommission auch mal raus aus dem Parlament und sieht sich das „wahre Leben“ an? 

Ich stimme zu, dass es einen Unterschied zwischen der Arbeit im Parlament und dem „wahren Leben“ gibt. Was die Kiko betrifft, war es in der Vergangenheit eher selten der Fall, dass sie sich aus dem Sitzungssaal herausgetraut hat. Die Kiko lädt sich lieber Expertise in den Bundestag ein, anstatt mal rauszugehen und eine Prise Realität zu schnuppern. Dies möchte ich zumindest an einigen Sitzungstagen, an denen dies terminlich möglich ist, aufbrechen und mit der Kiko konkrete Projekte besuchen, auch wenn diese dann wahrscheinlich eher in Berlin und Brandenburg, als in Konstanz oder München liegen. Sitzungen außerhalb des Bundestages bedürfen intensiverer Vorbereitung, als unter den idealen Bedingungen im Parlament. Deshalb werde ich auch darauf achten, dass die gute Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen des Sekretariats der Kiko an dieser Stelle nicht auf die Probe gestellt wird.

Worauf möchten Sie zurückblicken können, wenn Sie Ende dieses Jahres den Vorsitz der Kommission an Ihre Kollegin Beate Walter-Rosenheimer von den Grünen übergibst?

Die Welt lässt sich mit der Kiko nicht aus den Angeln heben, aber dieses besondere Gremium hat das Potential, gesellschaftliche Debatten zu bündeln und an das parlamentarische System heranzutragen. Hierbei hoffe ich, öffentliches Interesse für gute und vernünftige kinderpolitische Ziele zu wecken. Konkret wünsche ich mir eine breite und engagierte öffentliche Debatte über Kinderarmut. Denn es bedarf eines Bewusstseins, dass es zu vielen Menschen und damit auch Kindern ökonomisch nicht gutgeht und sie in einer reichen Welt unter Armut und Ausgrenzung leiden. Dann wünsche ich mir, dass die Bundeswehr ab 2017 keine Minderjährigen mehr rekrutiert, oder noch besser, dass keine Minderjährigen mehr freiwillig ihr Leben dem Töten widmen. Und zu guter Letzt, dass wir mit einem Blick auf die Kinder- und Jugendhilfe einen Beitrag zu einer dringend notwendigen Debatte geleistet haben, die eine bessere Ausstattung nach sich zieht.

linksfraktion.de, 13. Januar 2016