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"Kein schlechtes Gewissen"

Im Wortlaut von Oskar Lafontaine,

Oskar Lafontaine über Scharping, Schröder und die SPD

Herr Lafontaine, am Mittwoch ist es zehn Jahre her, daß Sie Rudolf Scharping auf dem Parteitag in Mannheim den SPD-Vorsitz entrissen haben. Mit welchen Gefühlen schauen Sie zurück?
Der Parteitag war die Grundlage für den Regierungswechsel im Jahr 1998. Die SPD erarbeitete sich damals ein klassisch sozialdemokratisches Programm. Leider hat Gerhard Schröder als Bundeskanzler dieses Programm, das der SPD den Wahlsieg eintrug, wenige Monate nach dem Beginn der rot- grünen Regierungszeit aufgegeben.

Haben Sie Scharping gegenüber ein schlechtes Gewissen?
Herr Scharping, das belegt das Protokoll des Parteitages, hatte mich aufgefordert, für den Vorsitz zu kandidieren. Dem habe ich nach langem Zögern zugestimmt. Herr Scharping ging fest davon aus, er werde wiedergewählt. Es kam anders. Warum sollte ich ein schlechtes Gewissen haben?

Sie haben doch schon vor dem Parteitag Scharpings Führungsqualitäten kritisiert. Was hat Sie an ihm gestört?
Scharping war damals Partei- und Fraktionsvorsitzender der SPD und wollte auch noch Kanzlerkandidat werden. Ich war der Auffassung, es sei nicht richtig, daß eine Person alle diese Funktionen innehat. In diesem Sinne habe ich mehrere Gespräche geführt unter anderen mit Johannes Rau, aber auch mit Scharping selbst mit dem Ziel, die Führungsaufgaben in der SPD gleichmäßiger zu verteilen. Das ist mir aber vor dem Parteitag nicht gelungen.

Und dann wuchs in Ihnen die Erkenntnis heran, daß Scharping der Falsche für das Amt des Vorsitzenden sei?
Ich bin auf den Parteitag gegangen, ohne die Absicht zu kandidieren. Das hat sich erst geändert nach der wenig überzeugenden Vorstellung Scharpings in Mannheim und nach meiner Rede, die sich mit der Programmatik der SPD beschäftigte. Danach haben mich viele aufgefordert, für den Parteivorsitz zu kandidieren. Den Ausschlag hat die Aufforderung durch Scharping selbst gegeben.

Wie war damals Ihr Verhältnis zu Gerhard Schröder?
Wir haben gut zusammengearbeitet. Nachdem Schröder in Mannheim im ersten Wahlgang nicht die notwendige Mehrheit erhalten hatte, um überhaupt in den Parteivorstand zu kommen, habe ich mich dafür eingesetzt, daß das gelingt.

Scharping erweckt den Eindruck, seine Ablösung als Parteivorsitzender sei von langer Hand vorbereitet worden. Ein entscheidendes Treffen soll in Heidelberg im Hotel "Europäischer Hof" stattgefunden haben. Waren Sie dort?
Nein. Daß Scharping solche Geschichten erzählt, kann ich menschlich verstehen. Aber diese Form der Vergangenheitsbewältigung führt nicht weiter. Halten wir uns an die Tatsachen: Rudolf Scharping forderte mich auf zu kandidieren, das tat ich, das Ergebnis ist bekannt.

Wer hat die Bundestagswahl 1998 gewonnen: der Parteivorsitzende Lafontaine oder der Kanzlerkandidat Schröder?
Die SPD als Ganze. Entscheidend war, daß die Partei mit einem klassisch sozialdemokratischen Programm antrat. Hätte es noch eines Beweises für die Richtigkeit dieser Aussage bedurft: Die jüngste Bundestagswahl hat ihn geliefert. Vier Wochen vor der Wahl entdeckte Schröder wieder sozialdemokratisches Gedankengut und konnte so entgegen allen Erwartungen ein Ergebnis oberhalb der dreißig Prozent erreichen.

Die "Enkel" Willy Brandts in der SPD haben sich so lange bekämpft, bis der letzte von ihnen aus einem wichtigen Amt ausgeschieden ist. Wem hat dieser Kampf mehr geschadet - den Karrieren der einzelnen oder der SPD?
Es gibt in allen Parteien solche Kämpfe. Denken Sie an Kohl, Geißler und Schäuble. Die Auseinandersetzungen, an denen ich mich beteiligte, waren ein Kampf um die politische Richtung. Das wurde nach dem Regierungswechsel 1998 überdeutlich. Schröder machte eine neoliberale Politik, die zu massivem Sozialabbau und hoher Arbeitslosigkeit führte.

Erfüllt es Sie mit dem Gefühl der Genugtuung, daß Schröder nicht mehr in der Regierung vertreten sein wird und Sie als Fraktionsvorsitzender eine wichtigere politische Rolle spielen werden als er?
Das wäre kleines Karo. Mich erfüllt mit Genugtuung, daß Schwarz-Gelb verhindert wurde und damit die Kopfpauschale und die "flat tax" auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wurden. Zudem hat das Wahlergebnis in der SPD zum Nachdenken über den richtigen Kurs geführt.

Vor wenigen Tagen haben wir ein abermaliges überraschendes Auswechseln des SPD- Vorsitzenden erlebt. Sehen Sie Parallelen zwischen dem Rücktritt von Müntefering und der Abwahl Scharpings?
Nein. Müntefering trat zurück wie Willy Brandt, weil er eine Personalvorstellung nicht durchsetzen konnte. Der Generalsekretär ist aber kein Angestellter des Parteivorsitzenden, sondern muß die ganze Partei vertreten. So hat Müntefering, der das Amt des Generalsekretärs in der SPD durchgesetzt hat, das in dieser Funktion auch immer gesehen.

Haben Sie jetzt das Gefühl, daß Sie der SPD schaden durch Ihre Rolle in der Linkspartei?
Die SPD hat sich selbst geschadet, wie massenhafte Parteiaustritte und Wahlniederlagen zeigen. Jeder, der sozialdemokratische und linke Politik machen will, muß sich zuerst an den Arbeitnehmern und Rentnern orientieren. Man macht nicht Politik um seiner selbst willen, sondern um Menschen zu dienen. Der massive Sozialabbau durch Rot-Grün machte die Gründung der Linkspartei notwendig.

Sehen Sie für die nächste Zeit eine inhaltliche oder gar organisatorische Annäherung der Linkspartei an die SPD?
Die SPD brauchte jetzt eine Zeit, in der sie sich in der Opposition erneuert. Da ihr diese Zeit nicht bleibt, kann man nicht sagen, welche Richtung sie einschlägt. In der SPD gibt es viele, die sich wünschen, daß es wieder zu einer Vereinigung der Linken kommt. Aber eine solche Entwicklung sehe ich angesichts der Politik der SPD nicht.

Vor kurzem nickten Sie Gerhard Schröder im Bundestag freundlich grüßend zu, er aber ignorierte Sie. Sehen Sie die Möglichkeit, daß sie zumindest höflich miteinander umgehen?
Ich bin insoweit in einer günstigeren Situation, als "Die Linke" eindeutig der Wahlsieger der Bundestagswahl ist. Die meisten Sozialdemokraten schaffen es, trotzdem wieder normale Umgangsformen zu pflegen.

Was täten Sie, wenn Sie Rudolf Scharping heute träfen?
Ich würde ihn selbstverständlich begrüßen. Wie er sich dann verhalten würde, das wäre seine Sache.

Die Fragen stellten Eckart Lohse und Markus Wehner.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13. November 2005