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Karlsruhe entscheidet erfreulicherweise erwartbar und konsequent

Im Wortlaut von Halina Wawzyniak,

Bundesverfassungsgericht kippt Dreiprozenthürde zur Europawahl

 

Von Halina Wawzyniak, rechtspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat heute also entschieden, dass die von Union, FDP, SPD und Grünen gegen die Stimmen der LINKEN eingeführte 3%-Sperrklausel zur Europawahl verfassungswidrig ist. Das Urteil des BVerfG war erwartbar und setzt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Sperrklausel bei der Europawahl konsequent fort. Das Verfahren vor dem BVerfG hätte nicht stattfinden müssen, hätten die benannten Parteien auf die LINKE gehört, die im Verfahren der Gesetzgebung immer wieder darauf hingewiesen hat, dass die 3%-Sperrklausel nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 9. November 2011 auch verfassungswidrig ist. Doch auf die LINKE wollten die anderen nicht hören. Jetzt haben sie den Salat und müssen sich vom BVerfG erneut bescheinigen lassen, ein verfassungswidriges Gesetz beschlossen zu haben.

Das Bundesverfassungsgericht hatte am 9. November 2011 die 5%-Sperrklausel für verfassungswidrig erklärt und in seiner Entscheidung u.a. ausgeführt:  “Faktisch kann der Wegfall von Sperrklauseln und äquivalenter Regelungen zwar eine spürbare Zunahme von Parteien mit einem oder zwei Abgeordneten im Europäischen Parlament bewirken (a). Jedoch fehlt es an greifbaren Anhaltspunkten dafür, dass damit strukturelle Veränderungen innerhalb des Parlaments einhergehen, die eine Beeinträchtigung seiner Funktionsfähigkeit hinreichend wahrscheinlich erwarten lassen (b). Durch die europäischen Verträge sind die Aufgaben des Europäischen Parlaments so ausgestaltet, dass es an zwingenden Gründen, in die Wahl- und Chancengleichheit durch Sperrklauseln einzugreifen, fehlt (c). [...] Deshalb fehlt es an zwingenden Gründen, in die Wahl- und Chancengleichheit durch Sperrklauseln einzugreifen, so dass der mit der Anordnung des Verhältniswahlrechts auf europäischer Ebene verfolgte Gedanke repräsentativer Demokratie (Art. 10 Abs. 1 EUV) im Europäischen Parlament uneingeschränkt entfaltet werden kann.”  Es fand eine Anhörung im Innenausschuss des Bundestages statt zum Vorhaben der Einführung einer 3%-Sperrklausel bei der Europawahl statt. Schon dort wurden verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Sperrklausel geäußert. Das gesamte parlamentarische Verfahren wurde schon damals von mir kritisiert.

In der abschließenden Lesung im Bundestag habe ich in meiner Rede im Hinblick auf das Argument, es seien neue rechtliche und tatsächliche Gründe seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur 5%-Sperrklausel aufgetreten, gesagt: “Das Bundesverfassungsgericht hat den Lissabon-Vertrag in seinem Urteil ausdrücklich und ein­gehend dekliniert, bewertet und zur Kenntnis genom­men. Eine Entschließung des Europäischen Parlaments wird hier als neuer rechtlicher und tatsächlicher Grund angeführt. Seit wann richtet sich die Verfassungslage da­nach, was politisch gewollt ist? Das Europäische Parla­ment ist noch immer ein Parlament und kein Rechtset­zungsorgan.” Interessant ist auch ein Blick in das Plenarprotokoll (TOP 17, S. 31430) der damaligen Debatte (Ich erinnere mich, es war sehr spät und eigentlich wollte niemand reden, aber ich. Und so haben dann doch alle geredet. :-) ). Der Abgeordnete Grindel beispielsweise argumentierte: “Deswegen bin ich mit allem Respekt vor unserem höchsten deutschen Gericht angesichts der Entschließung des Europäischen Parlaments, die eine neue Grundlage für unsere Änderung des Europawahlgesetzes bedeutet, zuversichtlich, dass uns im Falle eines Falles die Karlsruher Richter bestä tigen werden, dass wir uns im Rahmen des uns zustehenden Gestaltungsspielraums bewegt haben.” Das Bundesverfassungsgericht hat das nun anders gesehen. Der Abgeordnete Ruppert von der FDP war so ehrlich zu formulieren: Es bleiben auch bei mir Restzweifel, ob ein Berichterstatter, der eine Fünfprozenthürde vehement für verfassungswidrig gehalten hat, seine Haltung in einem zukünftigen Urteil revidieren wird.”  Er sollte Recht behalten.

Das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichts knüpft nathlos an die bisherige Rechtsprechung an. Es stellte im Urteilstenor fest: ” § 2 Absatz 7 des Gesetzes über die Wahl der Abgeorndeten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland [...] ist daher nichtig.”  § 2 Abs. 7 enthielt die 3%-Sperrklausel. Die Folge des Urteil ist, das bei der anstehenden Europawahl keine Sperrklausel in Deutschland gilt. In Randnummer 8 der Urteilsgründe verweist das BVerfG auf die Entscheidung aus dem November 2011, mit der die 5%-Sperrklausel für nichtig erklärt wurde. Klar und eindeutig heißt es in Randnummer 36: “Die Sperrklausel, die eine Berücksichtigung von Parteien und politischen Vereinigungen mit einem Ergebnis von unter 3 % der gültigen Stimmen von der Sitzvergabe ausschließt und damit zugleich den auf diese entfallenden Stimmen ihre wahlrechtliche Bedeutung nimmt, verstößt gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien.” In Randnummer 37 wird dargelegt, dass der Prüfungsmaßstab zur 5%-Sperrklausel auch auf die nun eingeführte 3%-Sperrklausel anzuwenden ist. Klar und deutlich widerspricht das BVerfG in Randnummer 41 auch der Auffassung, dass die “von Seiten des Unionsrechts durch Art.3 des Direktwahlaktes eröffnete Möglichkeit, eine Sperrklausel von bis zu 5% der abgegebenen Stimmen festzulegen, zugleich deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit nach dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Recht impliziert, … .” Die Aussage in Randnummern 46 und 47 des Urteils des BVerfG ist richtig und muss immer und immer wiederholt werden, bis sie alle verinnerlicht haben: “Aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme eines jedenWahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. Alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben (BVerfGE 129, 300 ).  Bei der Verhältniswahl verlangt der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit darüber hinaus, dass jeder Wähler mit seiner Stimme auch den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben muss (vgl. BVerfGE16, 130 ; 95, 335 ). Ziel des Verhältniswahlsystems ist es, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in demzu wählenden Organ vertreten sind. Zur Zählwertgleichheit tritt im Verhältniswahlrecht die Erfolgswertgleichheit hinzu (vgl. BVerfGE 120, 82 ; 129, 300).” Das BVerfG merkt an, das die Art.14 Abs. 2 UAbs. 1 Satz 3 EUV Lissabon vorgesehene degressiv proportionale Kontingentierung der auf die Mitgliedsstaaten entfallenden Sitze weder Abstriche von den Wahlrechtsgrundsätzen verlangt noch rechtfertigt (Randnummer 49). Nun ist allgemein bekannt, dass das BVerfG eine Rechtfertigung für Einschränkungen der Wahlrechtsgleichheit kennt (“zwingender Grund”) und diese regelmäßig wiederholt. Als Rechtfertigungsgrund wird regelmäßig -so auch in der heutigen Entscheidung in Randnummer 54- die “Sicherung der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes” und “die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung”genannt. Ich teile diese Rechtfertigungsgründe ausdrücklich nicht, gehe aber später darauf ein. Im Hinblick auf die Debatte zur Einführung der 3%-Sperrklausel bei der Europawahl steht der entscheidende Satz in Randnummer 65: “Die für die Beurteilung maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse haben sich seit dem Urteil vom 9.November 2011 nicht entscheidend geändert.” Und in Randnummer 68 wird ergänzt: “Auch in tatsächlicher Hinsicht haben sich während der laufenden Wahlperiode keine erheblichen Veränderungen ergeben.” Genau das habe ich für DIE LINKE im Bundestag gesagt.

Politisch ist das Urteil allerdings -auch das wenig überraschend- an der Stelle heikel, wo es um die Wiederholung der Rechtfertigungsgründe für eine Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit geht und im Hinblick auf das Europäische Parlament in Randnummer 72 argumentiert wird: “Der Gesetzgeber geht zutreffend davon aus, dass eine antagonistische Profilierung von Regierung und Opposition auf europäischer Ebene unter Umständen dann eine Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht rechtfertigen kann, wenn in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht Verhältnisse gegeben sind, die denen auf nationaler Ebenevergleichbar sind, wo die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung nötig ist.”  Zur Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit schreibt das BVerfG (Randnummer 54): “Eine große Zahl kleiner Parteien und Wählervereinigungen in einer Volksvertretung kann zu ernsthaften Beeinträchtigungen ihrer Handlungsfähigkeit führen. Eine Wahl hat nichtnur das Ziel, überhaupt eine Volksvertretung zu schaffen, sondern sie soll auch ein funktionierendes Vertretungsorgan hervorbringen.”  Die Handlungsfähigkeit eines Parlamentes bestimmt aber das Parlament selbst. Es obliegt ihm Regelungen zu finden, wie mit kleineren Parteien und Wählervereinigungen umzugehen ist. Vielleicht wäre es ja ein Anfang mal davon Abstand zu nehmen, diverse Rechte allein an den Fraktionsstatus zu knüpfen und stattdessen dem freien Mandat wirklich freien Lauf zu lassen. Es kann jedenfalls nach meiner Auffassung nicht angehen, dass sich die Wähler/innen nach der derzeitigen Arbeitsweise des Parlaments richten müssen. Vielmehr sind die Wähler/innen der Souverän und das Parlament hat in seiner Arbeitsweise diesen Willen zu respektieren. Dies würde im Übrigen auch dazu führen, das wenn das Europäische Parlament, wie DIE LINKE es möchte, mehr Kompetenzen bekommt, nicht doch wieder über Sperrklauseln nachgedacht werden muss.

Sperrklauseln gehören abgeschafft. Denn Sperrklauseln führen dazu, dass die Chancengleichheit bei Wahlen verletzt wird. Und sie schränken die Freiheite der Wahl ein. Wenn jemand überlegt, ob er die Partei seiner Wahl wählt oder aus Angst, die Stimmen könnten wegen der Sperrklausel verfallen, doch lieber eine andere Partei, dann ist das ein Problem.

Als letztes will ich auf das häufig kommende “Weimarer Argument” eingehen, nachdem die Erfahrungen in der Weimarer Republik eine Sperrklausel rechtfertigen. Vorweg: Wer eine Sperrklausel im Hinblick auf faschistische Parteien fordert, der versucht mit undemokratischen Mitteln Politik zu machen. Faschisten und Nazis müssen in der Zivilgesellschaft bekämpft werden. Eine Argumentation pro Sperrklauseln wegen faschistischer Parteien läuft im Zweifelsfall darauf hinaus, die Sperrklausel nach politischen Opportunitäten immer in dem Maße einzuführen, wie sie gerade den Einzug von Nazis in Parlamente verhindert. Im Hinblick auf das “Weimarer Argument” empfiehlt sich das Buch “Die 5%-Sperrklausel im Wahlrecht” von Becht und dort die Seiten 126 ff. . Becht kommt zu dem Schluss (S. 136): “Zusammenfassend kann gesagt werden, daß weder das Fehlen eines Zweiparteiensystems nach angelsäsischem Muster bzw. eines Mehrheitswahlrechtes noch das Fehlen einer Sperrklausel das bedeutendste Hindernis für ie erste deutsche Demokratie waren. Die mangelnde Kompromissbereitschaft der Parteien, die Übernahme antirepublikanisch gesinnter Institutionen, ein weitverbreitetes antidemokratisches Denken udn einer verheerende wirtschaftliche Entwicklung müssen in erster Linie für das Scheitern der Weimarer Republik verantwortlich gemacht werden.” Unter Verweis auf die Wahlergebnisse von 1919 bis 1928 kommt Becht zu dem Ergebnis (S. 147), das die Anwendung einer 5%-Sperrklausel eher negative Folgen für die jeweiligen Koalitionen gehabt hätte. Die 5 Minderheitsregierungen, so Becht, hätten auch mit 5%-Sperrklausel über keine Mehrheit verfügt, sie wären zum Teil noch geringfügig geschwächt worden.

 

linksfraktion.de, 26. Februar 2014