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Im Kürzungswahn

Im Wortlaut,

Hartz IV als Härtefall - Ältere Erwerbslose werden heute schon zwangsweise mit Abschlägen in Rente geschickt. Die Anhebung des Rentenalters wird diese Praxis noch verschärfen

Mit den Hartz-Reformen hat die rot-grüne Bundesregierung die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum ALG II zusammengelegt. Erwerbslose erhalten seither kürzer Arbeitslosengeld (ALG I) und werden früher zu ALG-II-Beziehern. Einiges wurde zusätzlich durch die große Koalition verschärft. Neuerdings steht auf der Verwaltungsebene das Modell der ARGEn auf dem Prüfstand. Für ältere Erwerbslose ergeben sich außerdem gravierende Folgen aus dem jüngsten Beschluss der Rente mit 67.

Die Hartz-Reformen haben einen wichtigen Grundsatz der" alten" Sozialhilfe übernommen: das Prinzip der "Nachrangigkeit". Für bestimmte Gruppen ergeben sich daraus bedeutende Nachteile. Diese Regelung verpflichtet die erwerbsfähigen ALG-II-Bezieher "alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit" auszuschöpfen. Sie haben in eigener Verantwortung alle Wege zu nutzen, "ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und Kräften zu bestreiten". ALG-II-Leistungen werden also nur gewährt, "soweit die Hilfebedürftigkeit nicht anderweitig beseitigt werden kann".

Dieses Prinzip der Nachrangigkeit gilt besonders auch gegenüber anderen Leistungen wie zum Beispiel der Rente. Daraus entstehen schwerwiegende Konsequenzen für ältere Erwerbslose. Wenn sie ihre Arbeit verlieren, nach einiger Zeit das ALG I ausgelaufen ist und sie auf ALG II angewiesen sind, müssen sie einen Antrag auf Rente stellen, sobald sie einen Rechtsanspruch darauf haben. Für den Fall, dass eine hilfebedürftige Person sich weigert, einen Antrag auf Rente zu stellen, hat die ehemalige rot-grüne Bundesregierung festgelegt, dass die Träger (die Kommune bzw. die Arbeitsagentur) "den Antrag stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen" können. Muss hier also von einer Zwangsverrentung ausgegangen werden?

Die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion ist hier recht klar: Da Hilfebedürftige zunächst alle anderen Möglichkeiten ausschöpfen müssten, um ihre Hilfebedürftigkeit zu verringern oder zu vermeiden, gehöre dazu "grundsätzlich auch die Inanspruchnahme einer Rente mit Abschlägen zum frühstmöglichen Zeitpunkt".

Im Lichte dieser Maßnahmen zur Zwangsverrentung aus dem SGB II wird die kürzlich von der großen Koalition beschlossene Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre zu einer Farce. Denn für die Betroffenen geht es gerade nicht um eine Verlängerung des Lebensarbeitszeit, mit der die Bundesregierung die Rente mit 67 begründete. Allzu häufig sind die letzten Jahre vor dem Übergang in den Ruhestand prekär und unsicher. Nur etwa jeder Fünfte geht direkt aus einer Erwerbstätigkeit in Rente. Die Quote sozialversicherungspflichtig Beschäftigter im Alter von 60 bis 65 Jahren liegt derzeit bei unter 20 Prozent.

Der rot-grünen Bundesregierung war die Wirkung der Zwangsverrentung wohl bewusst, sonst hätte sie nicht übergangsweise die so genannte 58er-Regelung eingeführt. Nach dieser können sich Erwerbslose über 58 Jahren davon freistellen lassen, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Dies hat für die Bundesregierung den Vorteil, dass die Betroffenen nicht mehr in der Statistik geführt werden. Ältere Erwerbslose sind nicht mehr verpflichtet, zum frühest möglichen Zeitpunkt in Rente zu gehen. Doch diese Übergangsregel läuft Ende 2007 aus. Alle nach 1950 Geborenen werden zukünftig nach Ende des ALG-I-Bezugs dazu gezwungen sein, ihre Altersrente zum frühest möglichen Datum zu beantragen. Ab 2029 greift die Rente mit 67 vollends: Spätestens mit der Vollendung des 65. Lebensjahres müssen dann alle Bezieher von ALG II mit Abschlägen von 7,2 Prozent in Rente gehen - sofern sie nicht aufgrund einer Ausnahmeregel noch früher mit noch höheren Abschlägen in den Ruhestand gehen müssen.

Zukünftig werden Personen mit weniger als 35 Beitragsjahren in der Regel unterdurchschnittliche Renten beziehen. Personen, die aufgrund von häufigerer Erwerbslosigkeit weniger Versicherungsjahre aufweisen können, werden auch eher von Zwangsverrentung durch das SGB II betroffen sein. Allerdings ist ihre Rente bereits ohne Abschläge nur selten höher als die Sozialhilfe. Werden diese Personen nun vorzeitig in Rente gezwungen, müssen sie auf ihre niedrigen Renten zusätzliche Abschläge hinnehmen und sind dann für den Rest ihres Lebens auf die Grundsicherung im Alter (Sozialhilfe) angewiesen. Insbesondere Frauen sind davon betroffen, denn sie unterbrechen häufiger die Erwerbstätigkeit, sind eher von Erbwerbslosigkeit betroffen und können meist weniger Beitragsjahre vorweisen.

Frauen (bis einschließlich Jahrgang 1951) dürfen bereits mit 60 Jahren bei entsprechenden Abschlägen in Rente gehen. Eine 1951 geborene alleinstehende Frau die seit 1. Januar 2008 erwerbslos ist, fällt zum 1. Juni 2009 in den Bezug von ALG II. Damit ist sie verpflichtet, ihr ganzes Vermögen (außer einem geringen Freibetrag) zu veräußern, um ihre Hilfebedürftigkeit zu reduzieren. Zum 1. Juli 2009 muss sie dann einen Antrag auf Rente stellen und damit Abschläge von 18 Prozent hinnehmen.

Durchschnittlich belief sich die Altersrente bei Frauen im Jahr 2005 auf etwa 500 Euro. Selbst bei Frauen, die 30 bis 39 Beitragsjahre vorweisen, beläuft sich die durchschnittliche Rente wegen Alters lediglich auf 650 Euro. Sollten deren Renten durch Abschläge um bis zu 18 Prozent gemindert werden, würden sie durch die Zwangsverrentung eindeutig in die Bedürftigkeit gedrängt.

Für Personen, die 45 Beitragsjahre vorweisen können, hat man zwar eine Ausnahmeregelung getroffen: Sie dürfen bereits mit 65 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen. Doch auch hier gibt es ein absurdes Zusammenspiel mit der Rente mit 67. Wenn zum Beispiel jemand im Juni 2028 mit 61 Jahren erwerbslos wird, aber bereits 45 Beitragsjahre hat, fällt er turnusgemäß anderhalb Jahre später in den Bezug von ALG II. Dann muss er eine vorgezogene Altersrente mit Abschlägen von 14,4 Prozent in Anspruch nehmen. In diesem Fall besonders perfide: Die Abschläge werden ihm auf das 67. statt das 65. Lebensjahr berechnet.

Die Zwangsverrentung gilt für alle, die im Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand erwerbslos sind oder werden. Die Anhebung des Rentenalters auf 67 durch die Bundesregierung erhöht zusätzlich das Risiko der Erwerbslosigkeit. Gerade diejenigen mit prekären Erwerbsbiografien sind besonders von den neuen Regelung betroffen, da sie bereits heute überdurchschnittlich häufig im Alter erwerbslos sind. Für diese Personen wird es in Zukunft noch schwieriger.

Die Beispiele zeigen, dass das Gesetz zur Rente mit 67 nicht auf eine längere Erwerbsphase abzielt und die Hartz-Reformen nicht eine Integration in den Arbeitsmarkt anstreben. Beide Reformen sind Teil einer Serie von Leistungskürzungen, die letztlich nur darauf abzielen, die Belastungen der Unternehmen und des Bundes auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verteilen. Die Zwangsverrentung ist die "moderne" Variante der arbeitsmarktpolitisch motivierten Frühverrentung. Allerdings scheiden die Betroffenen nicht mehr freiwillig aus dem Arbeitsmarkt und die Kosten tragen allein die Arbeitnehmer.

von Ingo Schäfer

Ingo Schäfer ist Referent für soziale Sicherung und Rentenpolitik der Linksfraktion im Bundestag.

Freitag, 4. Mai 2007