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»Ich möchte Friedensstifterin sein«

Im Wortlaut von Lukrezia Jochimsen,

Luc Jochimsen über ihre Kandidatur, den Freiheitsbegriff von Joachim Gauck und das Schablonenwort Unrechtsstaat

Vormittags Vorstellungsgespräch in Potsdam, mittags in Berlin, dann Interviews - so sehen die Tage von Luc Jo-chimsen aus, seit sie Kandidatin für die Wahl des Bundespräsidenten ist. Vor dem ND-Interview posiert sie für einen »Spiegel«-Fotografen, danach wartet ein Fernsehteam. Die einstige Chefredakteurin des Hessischen Rundfunks, seit 2005 Bundestagsabgeordnete der LINKEN, ist Medienprofi durch und durch: Geduldig und ohne Wiederholungsroutine beantwortet sie die Fragen. Druckreif. Mit Luc Jochimsen sprach Wolfgang Hübner.

Wenn Sie am 30. Juni in der Bundesversammlung eine Bewerbungsrede halten müssten - worüber würden Sie dann sprechen?

Dann würde ich über drei Themen sprechen. Erstens über Frieden: Ich würde sagen, ich möchte gerne Friedensstifterin sein als Bundespräsidentin und für eine friedlichere Gesellschaft werben. Was nicht nur Rückzug aus Afghanistan heißt, sondern auch friedlich zu sein nach innen - Friedenserziehung in der Schule, Diskussion über Rüstungsindustrie und Rüstungsexport. Zweitens möchte ich Schirmherrin sein für die Schwachen und die Benachteiligten, gerade in dieser Zeit. Und drittens möchte ich eine Vereinigerin sein. Denn wir haben 20 Jahre nach der Einheit immer noch zwei Gesellschaften in diesem Land.

Wie unterscheiden Sie sich damit von Ihren Mitbewerbern?

Ich habe von ihnen zu diesen Themen bisher wenig gehört. Herr Gauck sagt, in Afghanistan bekämpfen wir den Terrorismus und unsere Soldaten tun Gutes. Kein Wort zum Bombenangriff von Kundus, kein Wort dazu, was unsere Soldaten da mitmachen und was die Zivilbevölkerung an schrecklichem Leid auszuhalten hat. Ich habe von ihm ein Lob der Agenda 2010 gehört. Und ich höre seine Mahnung: Freiheit, Freiheit, Freiheit. Ohne nachzufragen, ob Freiheit allein nicht eher den Starken hilft und die Schwachen schwächt.

Mit dem Freiheitsbegriff von Gauck können Sie nichts anfangen. Inwiefern?

Das ist mir zu eng, zu isoliert, nur auf das Individuum gerichtet. Die Zusammenhänge zwischen dem Zusammenleben in der Gesellschaft und dem Leben des Einzelnen kommen in dem Freiheitsbegriff, wie Joachim Gauck ihn definiert, nicht vor.

Hätten Sie darüber mit Gauck und Wulff gern öffentlich diskutiert?

Ja, gerne. Ich bedaure sehr, dass es keine Fernsehdiskussion gibt mit allen drei Kandidaten. Ich bedaure auch, dass ich nicht von den anderen Bundestagsfraktionen eingeladen wurde, um meine Vorstellungen dort vorzutragen.

Es ist ja abzusehen, dass Sie die Wahl nicht gewinnen werden. Worin besteht für Sie der politische Wert Ihrer Kandidatur?

In der Möglichkeit, bis zur Wahl für Positionen zu werben, die bei den anderen Kandidaten nicht vorkommen.

Was dachten Sie, als Ihnen die Kandidatur angetragen wurde?

Für mich kam das wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Als ich von den Kandidaten Wulff und Gauck gehört hatte, war mir als Wahlfrau klar, dass ich keinem von ihnen die Stimme geben kann. Also, dachte ich, brauchen wir als LINKE einen eigenen Kandidaten. Und dann habe ich überlegt, wen ich unserem Fraktionsvorstand und der Parteispitze vorschlagen könnte. Ich hatte auch eine Idee, eine wunderbare Frau aus dem kirchlichen Bereich, und wollte mit Gesine Lötzsch darüber sprechen. Doch bevor es dazu kam, rief Gesine mich an und sagte, sie müsse sich mit mir treffen - um über mich zu sprechen. Das kam völlig unerwartet, ich hätte mir soetwas nie vorstellen können.

Finden Sie es richtig, die Wahl des Präsidenten als Druckmittel gegen die Regierung zu benutzen?

Ich meine, man hätte die Wahl von solchen Aspekten freihalten sollen. Dieses Amt zum Gegenstand von Geschachere und offenem Druck zu machen, das bedeutet eine Beschädigung des Amtes.

Ähnliche Stimmen gibt es auch aus der Linkspartei. Da sagt mancher, wenn Wulff nicht durchkommt, ist Merkel am Ende, und darauf müsse man hinarbeiten.

Es gibt einige wenige solche Stimmen. Aber die große Mehrheit sieht das doch anders.

Sie waren Anfang der 90er Jahre ARD-Korrespondentin in London, kamen 1994 zurück und waren erstaunt, wie wenig die Einheit im Westen Deutschlands angekommen ist. Was hatten Sie erwartet?

Ich hatte erhofft, dass Dinge, die gut waren in der DDR - zum Beispiel die Polikliniken, zum Beispiel das Schulsystem - aufgenommen werden. Ich habe mich viel mit Schulsystemen beschäftigt - mit langem gemeinsamem Lernen, mit polytechnischem Unterricht, mit die Berufsbildung und Theoriebildung. Und ich verstehe bis heute nicht, warum man sich nicht die Schulstruktur angesehen und überprüft hat, welche Vorteile sie hat. Ich dachte immer, man könnte aus beiden Staaten das Beste bewahren für ein vereintes Land.

Wie ist Ihre Kritik, Ihre Enttäuschung aufgenommen worden, als Sie wieder in Hessen waren?

Mit Unverständnis. Ich bin als naiv bezeichnet worden. Man hatte auch gar keine Neugierde auf die andere Seite.

Nach 20 Jahren Einheit gibt es immer noch erhebliche Defizite, gravierende Ungleichheiten zwischen Ost und West. Was kann eine Bundespräsidentin tun, um die Einheit zu befördern?

Denken Sie mal an einige Reden zurück. Etwa die Weizsäcker-Rede zum 8. Mai als Tag der Befreiung. Das war fast ein historischer Knall für diese Gesellschaft. Durch das Wort kann viel bewegt werden.

Braucht die Institution des Bundespräsidenten einen zeitgemäßeren Umgang mit Medien, mehr Offenheit?

Ja, ich finde, das ist eine wichtige Frage: Wie weit kann man die präsidiale protokollarische Ebene und die Rituale verlassen, um mit allen möglichen Menschen in der Gesellschaft in den Dialog zu kommen? Vielleicht wird das Präsidialamt einmal in der Woche zum offenen Haus. Da gibt es sicher viele Möglichkeiten.

Mit welchen Argumenten wollen Sie Vertreter anderer Parteien in der Bundesversammlung überzeugen?

Ich hoffe, dass ich bei dem einen oder anderen mit dem Thema Frieden Zustimmung bekomme. Ich glaube auch, dass man mit der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit nicht falsch liegen kann - gerade jetzt, nach dem Bekanntwerden des Sparpaketes und seiner drastischen Ungleichgewichte. Darüber, hoffe ich, kommt man auch im bürgerlichen Lager ins Grübeln.

Würden Sie sich in diesem Zusammenhang Kurt Biedenkopfs Aufruf »Gebt die Wahl frei!« gegen den Fraktionszwang anschließen?

Wenn es selbstbewusste Wahlfrauen und -männer sind, selbstbewusste Demokraten, dann braucht man eigentlich diesen Aufruf nicht. Es ist ja eine geheime Wahl, und wenn die Mitglieder der Bundesversammlung nach ihren politischen Gesamtvorstellungen handeln, dann könnte es zu anderen als den vorgestanzten Ergebnissen kommen.

Haben Sie geahnt, in was für ein Wespennest Sie stechen, als Sie sich in einem Interview weigerten, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen?

Nein. Es war mir wichtig, mit eigenen Worten zu beschreiben, wie ich die DDR sehe. Denn danach bin ich gefragt worden. Da habe ich gesagt, es war eine Diktatur, es war kein Rechtsstaat, es war ein Staat, der unverzeihlich viel Unrecht seinen Bürgern gegenüber begangen hat und deswegen auch zusammengebrochen ist. Ich frage mich, wieso an diesen Sätzen Anstoß genommen werden kann. Ich frage mich auch, warum ich es nicht so ausdrücken darf, wie ich es sehe. Und warum man von mir verlangt, dass ich einen Schablonenbegriff benutze, von dem mir Juristen und Wissenschaftler sagen, es ist keine juristische oder wissenschaftliche Kategorie. Wenn man diesen Schablonenbegriff benutzt, erhält man die Absolution der Gesellschaft. Wenn man ihn nicht benutzt, dann ist man eine schlechte Bürgerin.

Nicht nur das. Der CDU-Generalsekretär Gröhe meint, Sie verhöhnen die Opfer des SED-Regimes, und Bundestags-Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt von den Grünen wirft Ihnen vor, SED-Kadern nach dem Mund zu reden.

Worin die Verhöhnung der Opfer besteht, wenn ich sage, die DDR war eine Diktatur, sie war kein Rechtsstaat und sie hat unverzeihlich viel Unrecht an ihren Bürgern begangen, das muss mir Herr Gröhe mal erklären.

Sie haben sehr lange als Journalistin gearbeitet - wie fühlen Sie sich als Kandidatin von den Medien behandelt?

Ich finde, dass meine Kandidatur weitgehend totgeschwiegen wird. In vielen Berichten gibt es nur zwei Kandidaten: Wulff und Gauck. Und wenn über meine Kandidatur berichtet wird, dann oft nur über den Streit um dieses Schablonenwort.

Fällt Ihnen ein möglicher Kandidat für das Präsidentenamt ein, bei dem Sie - wäre er von Rot-Grün nominiert worden - gesagt hätten: Der ist gut, gegen den trete ich nicht an?

Friedrich Schorlemmer, den finde ich großartig. Gegen den wäre ich nicht angetreten.

Sie plädieren für die Direktwahl des Bundespräsidenten durch die Bürger. Bedeutete das nicht aber einen noch viel schärferen Wahlkampf, der alles noch mehr in den Griff der Parteien nimmt?

Eine solche Entwicklung ist nicht auszuschließen. Ich finde es aber generell besser und demokratischer, wenn man das Volk fragt und wenn man mehr Kandidaten hat. Und ich glaube, es würde den Einfluss der Parteien beschränken. Man müsste über das Verfahren gründlich nachdenken, aber es wäre die Mühe wert.

Was würde Deutschland und den Bürgern fehlen, wenn es gar keinen Bundespräsidenten gäbe?

Viele Menschen fragen, warum sie den Präsidenten nicht selbst wählen dürfen. Das bedeutet, dass sie ein Interesse an der Wahl und an dem Amt haben. Diese Institution zwischen Parlament, Regierung und Bundesverfassungsgericht ist schon wichtig. Auch als Integrationsfigur. Das scheint mir das Allerwichtigste zu sein.
Ein Bundespräsident müsste ein Mensch sein, der von der Mehrheit der Bevölkerung wichtig genommen wird. Und der der Bevölkerungsmehrheit etwas zu sagen hat. Er kann der wichtigste Mensch in der politischen Kultur sein, außerhalb der Regelwerke der Parteien.
Und er könnte etwas Wunderbares beweisen: dass er zwar von einer Partei aufgestellt wurde, aber in dem Moment, wo er das Schloss Bellevue betritt, ein anderer wird. Einer, der sich gegenüber der Verfassung in der Pflicht sieht und nicht gegenüber Parteien. Das ist doch eigentlich eine großartige Geschichte.

Interview: Wolfgang Hübner

Neues Deutschland, 29. Juni 2010