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»Ich habe vier Leben«

Im Wortlaut von Gregor Gysi,

Seit März 2003 gibt es im Deutschen Theater Berlin die Sonntagsmatinee »Gregor Gysi trifft Zeitgenossen«. Über 60 Gesprächspartner traf er schon – und betreibt so quasi das, was in seiner Partei den Ruf hat wie das Weihwasser beim Teufel: pure Personaldebatte. »Offene Worte« heißt der zweite Sammelband dieser Begegnungen. Bei »nd im Club« redete der Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Bundestag über ein Aquarium, sein Leben als Großvater, Anwaltsspiele im Parlament und ein wenig Furcht vor Einsamkeit. Mit Gregor Gysi sprach Hans-Dieter Schütt.

Gregor Gysi, auf der Bühne des Deutschen Theaters steht während Ihrer Gespräche ein Aquarium. Schwimmen da noch immer die gleichen Fische?

Gregor Gysi: Nach der Sanierung des Hauses wurden sie wohl ausgewechselt. Einer starb, wie man mir erzählte. Aber ansonsten geht es denen gut.

Die Fische dürfen schweigen.

Ja. Sie antworten, wie ich es mögen soll.

Die leisten keine Widerrede.

Widerrede ist bei den Gesprächen gewünscht. Mancher Interviewpartner äußerte im Vorfeld Befürchtungen, bei mir nicht zu Wort zu kommen. Alle kommen ausreichend zu Wort.

Für Sie eher widernatürlich.

Deshalb schätze ich diese Gespräche: Man will ja auch mal anders sein.

Da haben wir ihn: den Trieb zum Unterhaltungsgewerbe.

Wenn das Leben nur aus Bundestagsdrucksachen und Parteipapieren besteht, wird der Mensch eng. Wenn man nur solche Dinge liest, denkt man irgendwann auch nur so, und noch schlimmer: Man sieht auch so aus, man ist nicht mehr lebendig, man raschelt nur noch und fühlt sich abgeheftet.

Sitzen Sie manchmal in Gremien und denken daran, dass Sie mit einem abwechslungsreicheren Leben als andere gesegnet sind?

Ich habe vier Leben! Ich bin Politiker und also in den Medien, ich bin Anwalt, ich habe mein Privatleben und darf viertens Publizist und Moderator sein.

Politik reicht Ihnen nicht?

Sie langweilt gelegentlich auch. Du siehst jemanden zu einer Rede ansetzen und weißt schon, was kommt.

Und Sie selber?

Ich betreibe ein Anwaltsspiel, ich versetze mich ins Denken der Gegenseite. Ich sage mir zum Beispiel: Was würdest du jetzt Schlaues sagen, um den Gysi zu widerlegen? Um für sich etwas zu erreichen, darf man nicht nur abblocken, man muss Interessen der anderen mitdenken.

Sind Sie redend Routinier?

Das denken alle. Ich bin aber nervös, immer.

Sie sind der Politiker, der seit 1990 wohl am meisten beleidigt, beschimpft, verächtlich behandelt wurde. Wie erträgt man das?

Ich zähle mich eigentlich zu den sensiblen Typen und wundere mich also noch immer, was ich an Schmutz aushielt. Aber wenn ich angegriffen werde, kann ich nicht anders: Ich wehre mich. Unsere Gegner waren dumm: Hätten die mich von Beginn an freundlich behandelt, wäre ich vielleicht schon länger nicht mehr im Bundestag. Ich wurde zu oft an der Ehre angegriffen, um ohne Selbstbeschädigung weggehen zu können.

Ist diese Verächtlichmachung typisch deutsch?

Sie ist wohl ein gängiges Politikprinzip. Und doch unterscheidet sich die politische Kultur in Deutschland zum Beispiel sehr von der französischen. Wir sehen alles ideologisch. Geschichte etwa: Selbst die Schlacht im Teutoburger Wald im Jahre 9 nach der Zeitrechnung würde ein Union-Politiker gänzlich anders interpretieren als ein Linker. Jeder benutzt alles nur als Transportmittel für die eigene Ideologie. Das ist in Frankreich anders, man hat ein unverklemmtes Verhältnis zur Geschichte als Erzählstoff. Clara Zetkin zum Beispiel ist als Deutsche an der Moskauer Kremlmauer beerdigt. Noch nie hat ein deutscher Spitzenpolitiker dort ein kleines Gebinde niedergelegt. Wenn die Zetkin Französin gewesen wäre – ich bin überzeugt, noch der konservativste Pariser Präsident hätte Blumen hingebracht.

Sie zählen sich zu den sensiblen Typen. Hätten Sie in der DDR zum Staatsanwalt getaugt?

Das kam für mich überhaupt nicht in Frage, ich hätte stets die Weisung des übergeordneten Staatsanwaltes erfüllen müssen. Und zum Richteramt war ich zu jung, und außerdem fehlte mir die Entscheidungsfreude. Ich hätte nachts vor ewiger Abwägung nicht schlafen können.

Sie waren auch Scheidungsanwalt.

Scheidungen mache ich jetzt überhaupt nicht mehr. Familienrecht ist so emotionsgeladen, das übersteigt mein Herz. Es sind Schlachten um verlorene Kinder, die will ich mir nicht mehr antun.

Sie haben drei Kinder. Wie sehen Sie sich als Großvater?

Ich habe mir fest vorgenommen, Enkel nur zu verwöhnen. Ich werde einzig eingreifen, wenn es um Gesundheit oder Leben geht, ansonsten nur: verwöhnen, verwöhnen, verwöhnen. Erziehen sollen die Eltern!

Sie waren in der DDR auch der Anwalt von Peter Hacks. Wie haben Sie denn dem geholfen?

Sage ich natürlich nicht. Was ich toll fand, war der Stil seiner Briefe. Er schrieb an den Verwaltungsdirektor des Deutschen Theaters und erhielt keine Antwort. Nach vier Wochen verfasste er einen weiteren Brief, den begann er so: »Sehr geehrter Herr Soundso, welche verborgenen Verdienste berechtigen Sie, unverschämt zu werden?« Grandios.

Sie brachten sich selber auf den Punkt der »vier Leben« …

Ein jedes macht mich auf besondere Weise unabhängig. Ich kann, aber muss nicht Politiker sein, das macht mich souverän, frei.

Vier Leben. Das heißt doch: keines richtig.

Den Satz kann man wagen, ja. Wobei ich natürlich – damit kein Missverständnis aufkommt – am intensivsten Politiker bin. Klar: Irgendwo zahlt man drauf, wenn man mehrere Kreise zieht. Aber welches von den Leben soll ich hergeben? Ich will keines hergeben.

Auch Sie werden älter.

Ich frage schon vorsichtig und furchtsam manchen Rentner, was er den ganzen Tag zu Hause macht. Ich will später nicht unerträglich werden: Ich habe kein Hobby, ich kann doch nicht anfangen, Briefmarken zu sammeln.

Bei Ihren Gesprächen am DT erzählen Sie mitunter auch Geschichten von Ihrem Vater, Kultur- und Kirchenpolitiker in der DDR. Nähkästchen-Plauderei. Gibt es eine Lieblingsgeschichte?

Ja, man glaubt, es sei ein Witz. Ist aber blanke Wahrheit. Ghaddafi kam zum Besuch in die DDR und wunderte sich, dass es keine Moscheen gab. Nun ja, sagten die SED-Leute, es gebe ja auch keine Muslime, die Leute aus den arabischen Botschaften würden nach Westberlin gehen. Unmöglich!, sagte Ghaddafi, ihr müsst eine Moschee haben, das Geld schicke ich euch. Und er überwies es tatsächlich. Aber es wurde natürlich für andere dringende Dinge ausgegeben. Als Ghaddafi nach Jahren mal wieder kam, geriet man in der Staatsführung in Panik. Noch immer keine Moschee! Die haben doch tatsächlich das Wasserwerk in Potsdam, das aussieht wie eine Moschee, vollständig ausgeräumt, haben Teppiche reingelegt, haben es zur Moschee umkostümiert. Zum Glück wollte Ghaddafi die »Moschee« aber nicht sehen.

Im August vorigen Jahres sagte Lothar Bisky in einem Interview, es werde Zeit, dass sich »die alten Säcke« in Ihrer Partei zurückziehen. Was sagen Sie dazu, als ewiger Spitzenkandidat?

Ich bin doch noch jugendlich, ich bin noch nicht mal im Rentenalter. Aber im Prinzip hat er recht. Ich weiß genau, wann ich aufhöre als Fraktionsvorsitzender.

Wann?

Sage ich nicht. Verrate ich das Enddatum, werde ich schon jetzt nicht mehr ernst genommen. Ich weiß, dass Breshnew zum Schluss getragen wurde. Das passiert mir nicht.

Sie fänden auch keinen, der Sie trägt.

Stimmt. Bei uns herrscht nicht mehr die damalige Disziplin.

Eine Partei der Jugend sind Sie auch nicht gerade.

Junge Leute organisieren sich nicht mehr so gern in Parteien. Wir haben zu wenig Rebellion, Ideenüberschuss, Ungenügsamkeit – all das, was Jugend hat und will. Kommen junge Leute in manche Basisgruppe, sagen sie, naja, ein Altersheim wollte ich erst viel später betreuen. Ich sage das jetzt ein bisschen brutal, aber wir benötigen Strukturen, die zeitgemäß sind. Was mich tröstet, trotz unserer Probleme: Die linke Idee ist kräftiger, größer als die Partei, sie geht nicht unter, sie wird auch künftige Generationen erreichen.

Kürzlich hieß es, die Linkspartei müsse »zurück in die Erfolgsspur«. Was ist das, diese Spur?

Die Erfolgsspur besteht darin, nahe bei den Bürgerinnen und Bürgern und ihren Problemen zu sein und dadurch die Akzeptanz zu erhöhen. Wenn wir das nicht leisten, sondern uns überwiegend mit uns selbst beschäftigen, dann wenden sich die Leute von uns ab.

Weicht die Demokratie, also Koalitionsfähigkeit, den Charakter einer Partei auf?

Man muss unverkäufliche Prinzipien haben, aber zugleich dafür sorgen, dass man andere nicht dominiert. Jeder will doch kenntlich bleiben, also muss jeder im Vorwärtsgehen auch zurückstecken können. Das ist das Kunststück. Die Richtung des Schrittes muss stimmen, bei der Länge des Schrittes kann man Kompromisse machen. Es ist wie bei der Ehe: Die ist nicht in Gefahr, wenn man sich streitet, aber sie ist dann absolut in Gefahr, wenn einer von beiden den Gedanken nicht mehr loskriegt, siegen zu wollen.

Fühlten Sie sich je als Kommunist?

Ja, und das hing mit der Herkunft meiner Familie zusammen. Aber ich besitze nicht die kulturelle Hoheit, um den Inhalt von Begriffen in der Gesellschaft zu bestimmen. Wenn die Leute unter Kommunisten jene verstehen, die eine Gesellschaft anstreben, die klassenlos ist und in der die Freiheit des Einzelnen die Voraussetzung der Freiheit aller bedeutet, eine Gesellschaft, in der es Chancengleichheit gibt – ja dann habe ich doch keine Schwierigkeit, mich mit diesem Begriff zu versehen. Wenn ich aber in der westdeutschen Gesellschaft feststelle, dass Menschen unter dem Begriff des Kommunismus den Stalinismus, die Mauer, die Diktatur einer Partei fassen, dann bin ich nicht dogmatisch und bestehe nicht trotzig auf diesem von Furcht und Ablehnung besetzten Begriff. Ich bin ein demokratischer Sozialist. Ich brauche den anderen Begriff nicht mehr.

Jedes Vokabular hat seine Zeit.

Der Begriff Kapitalismus war erledigt, jetzt ist er wieder da. Und zwar als akzeptiertes und warnendes Schreckenswort.

Braucht ein Linker Staatsräson?

In der DDR hatten wir verhängnisvoll viel davon. Man sollte dem bürgerlichen Staat gegenüber offen sein. Man muss ihn nicht mögen, aber man sollte daran denken, dass er ein wichtiges Instrument und der Garant der demokratischen Praxis und des politischen Einflusses der Bürgerinnen und Bürger ist. Ich zähle zu denen, die für das Primat der Politik über die Finanzwelt und die Wirtschaft kämpfen. Leider bestimmt Ackermann, was Merkel tut. Ich möchte es umgekehrt. Vielleicht ist das die wahre Staatsräson. Ich würde den Begriff aber trotzdem nicht dafür verwenden.

Gregor Gysi, wie gehen Sie mit Einsamkeit um?

Die kenne ich bislang nicht.

Fürchten Sie denn die Einsamkeit?

Ein bisschen. Ich möchte nicht erleben, dass ich mich mit mir langweile. Es ist eine große Kunst, von der Überzeugung abzulassen, die eigene Meinung sei der Welt unbedingt mitzuteilen.

Neues Deutschland, 25. Januar 2012