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Hier und Jetzt im System

Im Wortlaut von Katja Kipping,

Über die Relevanz und ihre Immanenz – Beitrag in der Serie: Was ist systemrelevant?

Von Katja Kipping, sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag und Parteivorsitzende der Partei DIE LINKE




Wenn man aus fachpolitischer Sicht über Systemrelevanz schreiben soll, ist man zum Beispiel als Energiepolitiker fein raus, weil man zumindest einige Naturwissenschaften fest an seiner Seite wähnen darf. Hier gibt es nicht viel Spielraum für Interpretationen oder Behauptungen. Versuchen kann man es freilich trotzdem, wie der amerikanische Arzt Edward J. Goodwin, welcher im Jahre 1897 die "wirkliche" Kreiszahl Pi "auf übernatürliche Art und Weise" in Erfahrung gebracht haben wollte. Sein Vorschlag, künftig 3,2 als Kreiszahl zu benutzen, wurde von den Abgeordneten des Staates Indiana auch ohne Gegenstimmen durchgewunken – später jedoch glücklicher Weise kassiert. Nur die Form des Spielgerätes beim American Football erinnert noch an Goodwins Berechnungsgrundlage.

  Die Kreiszahl ist nun also tatsächlich eine unbestrittene, systemrelevante Größe – in der Sozialpolitik sieht es mit der Unbestreitbarkeit politischer, soziologischer, religiöser und philosophischer Thesen sowie deren Ableitungen ein wenig anders aus. Linke haben es hier besonders schwer – ich weiß, wovon ich rede!

Hartz IV -– in Gesetze gegossene Überzeugung eines konservativen Weltbildes   So sind sich unsere konservativen Mitbürgerinnen und Mitbürger weitgehend darüber einig, dass man die  Armen nicht verhungern, aber auch nicht frech werden lassen darf. Ersteres, weil dies der liebe Gott bestraft. Letzteres, weil man an sich selbst beobachtet hat, dass Frechheit siegt. Hartz IV ist im Prinzip die in Gesetze gegossene Überzeugung jenes konservativen Weltbildes – es ist ein systemrelevantes Werkzeug paternalistischen Wohlfahrtsdenkens. Dass es ausgerechnet die deutsche Sozialdemokratie mitsamt ihres intellektuellen Appendix Bündnis 90/Die Grünen waren, die sich damit auf ewig im Kapitalismus einnisten wollten, vermag kaum noch jemanden zu überraschen. Die begeisterte Zustimmung, die den Kleingeistern der Arbeiterbewegung dafür von Seiten ihrer ehemaligen Feinde entgegenschlug, ebenfalls nicht.   Immerhin weckte die sozioökonomische Speichelleckerei Gerhard Schröders – und seiner Kumpane aus den K-Gruppen der 70er Jahre – die verbliebenen Reste progressiver Vitalität in der geschundenen Mitgliedschaft der SPD, was letztendlich zur Gründung der gesamtdeutschen LINKEN führte. Die darf sich nun darüber streiten, was außer Hartz IV noch alles systemrelevant ist. Hier gehen die Meinungen weit auseinander.
  Bezeichnet ein Genosse oder eine Genossin beispielsweise die sogenannten Tafeln – also Sammel- und Ausgabestellen von Lebensmitteln mit eingeschränkter Resthaltbarkeit – als systemrelevant, weil das kapitalistische System stabilisierend, muss man man auf einen Aufschrei aus der konsumkritischen Ecke nicht lange warten. Bald rechtfertigen sich Genoss_innen, die selbst bei der Tafel mithelfen, Konsumkritiker sowie Menschen, die es sich einfach nicht vorstellen WOLLEN, dass eine reiche Gesellschaft diese Art der Armenspeisung duldet, um die Wette. Dabei haben sie ja alle Recht.

Sind Tafeln eine Schande?   Natürlich ist diese Art der Nahrungsausgabe, die im Nachgang von Kriegen, Naturkatastrophen oder am Rande von Schulsportfesten akzeptabel wäre, eigentlich eine unglaubliche Schande. Mindestens eine genau so große Schande ist es, dass die Überproduktion von Lebensmitteln und damit auch deren kalkulierte Vernichtung Bestandteil des Unternehmenskonzeptes von Einzelhandelsketten ist. Die Schande vergrößert sich noch dadurch, dass ein Teil der Lebensmittel beziehungsweise seiner Bestandteile ja aus Ländern kommen, in denen Menschen ganz real und tagtäglich verhungern. Und dass die gleichen Handelsketten, deren Geschäftsmodell auf dieser Schande beruht, sich als Zulieferer der Tafeln medienwirksam als Wohltäter aufspielen und damit wiederum für ihr schändliches Treiben werben können – das ist natürlich auch eine Schande!   Die Kritiker des Tafelmodells haben also gute Argumente. Die Befürworter nur eines: Schmeißen wir die Nahrungsmittel also lieber weg? Natürlich - es ist das am leichtesten zu vermittelnde Argument. Menschen, die von der Systemrelevanz der Hartz-Gesetze betroffen sind, darüber zu belehren, dass sie bitteschön ein hungriges Einsehen in die systemstabilisierende Wirkung der Tafelprojekte haben möchten - das ist eine große Aufgabe! Viel Glück dabei - ich übernehme sie nicht. An meiner so innerlichen wie gerechtfertigten Abneigung gegen diesen paternalistischen Unfug und seine Grundlagen ändert das aber nichts.   Man könnte hier weitermachen: Öffentlich geförderte Beschäftigung? Kirchliche Sozialarbeit? Subvention historisch überlebter Produktionszweige? Freie Schulen?    Es ist eine Krux: Wir leben in einem System, das wir völlig zu Recht schlecht finden und müssen versuchen, nicht nur selbst darin mit halbwegs geradem Rücken zu bestehen, sondern auch unseren Anspruch, ein besseres, weil gerechteres Gesellschaftssystem anzustreben mit der Tatsache in Einklang zu bringen, dass die Menschen, für die wir uns einsetzen, auch nur dieses eine Leben haben: Jenes, welches sie im Hier und Jetzt gerade - und zwar möglichst gut - leben wollen.
linksfraktion.de, 3. August 2012

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