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Gute Pflege muss Aufgabe der gesamten Gesellschaft werden

Interview der Woche von Sabine Zimmermann, Pia Zimmermann,

 

Sabine Zimmermann, Leiterin des Arbeitskreises Soziales, Gesundheit und Rente, und Pia Zimmermann, pflegepolitische Sprecherin der Fraktion, sehen gute Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe an. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der Angehörigen von Pflegebedürftigen die Hauptverantwortung in der Pflege zuschiebt, geht für sie deshalb in die falsche Richtung. Im Interview der Woche umreißen sie die Eckpfeiler einer stabilen, solidarischen Pflegefinanzierung und benennen die Erfordernisse für eine deutliche Qualitätssteigerung in der Pflege.

 

Die Große Koalition hat einen Gesetzentwurf zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf vorgelegt. Der ist nun in der zweiten und dritten Lesung im Bundestag. Wird Pflege damit nun endlich ein höherer Stellenwert zuerkannt?

Sabine Zimmermann: Der Entwurf geht für uns in die falsche Richtung: Ganz im Sinne der bisherigen Pflegepolitik wird die Hauptverantwortung für die Pflege der Familie zugeschoben. Pflege wird zur Privatsache gemacht. Die große Koalition beantwortet nicht die Frage, wie es Menschen mit Pflegebedarf und ihrem Umfeld ermöglicht werden kann, selbstbestimmt zu entscheiden, wie sie von wem gepflegt und unterstützt werden wollen. Sie will vor allem Anreize für die Pflege durch Angehörige schaffen. Dabei muss es darum gehen, allen Menschen unabhängig von ihrem Geldbeutel den Zugang zu guter Pflege zu ermöglichen. Die Antwort auf die Frage ist daher – leider – ein klares Nein.

Viele Menschen wünschen sich aber doch, dass sie, sollten sie einmal pflegebedürftig werden, in ihrer vertrauten Umgebung bleiben können. Warum kritisieren Sie, dass der Gesetzentwurf Familienangehörigen nun Möglichkeiten schafft, diesem Wunsch Rechnung zu tragen?

Pia Zimmermann: Das stimmt, viele Menschen wünschen sich, zu Hause gepflegt zu werden. Allerdings instrumentalisiert die große Koalition diesen Wunsch für ihre Politik – einfach, um Kosten zu sparen.  Sie setzen voraus, das Bedürfnis, in der vertrauten Umgebung bleiben zu wollen, würde bedeuten, von Angehörigen gepflegt werden zu wollen. Diese Gleichsetzung ist so nicht richtig. Für viele bedeutet Pflege im vertrauten Umfeld nicht automatisch, von ihren Verwandten gepflegt werden zu wollen. Entscheidend ist für mich jedoch ein anderer Punkt: Die Politik muss endlich eine gute professionelle pflegerische Versorgung gewährleisten. Solange das nicht geschieht, sind Angehörige oft gezwungen, ob sie wollen oder nicht, die Pflege ihrer Kinder, Eltern, Partnerinnen oder Partner zu übernehmen.

Sie sagen, dass Angehörige oft notgedrungen einspringen, wenn Familienmitglieder pflegebedürftig werden, und dass das Gesetz nichts daran ändere. Worin begründet sich deren Zwangslage?

Pia Zimmermann: Die Leistungen der Pflegeversicherung reichen hinten und vorne nicht. Sie decken nicht einmal die Hälfte der bei Pflege anfallenden Kosten. Wer professionelle Pflege haben will, muss draufzahlen. Viele können sich das nicht leisten, weshalb Angehörige mit ihrem Vermögen oder ihrer Hilfe zur Pflege einspringen müssen. Oft übernehmen Angehörige Pflegetätigkeiten, weil häusliche Pflege finanziell anders kaum machbar ist. Auch das geplante Gesetz schiebt die finanzielle Verantwortung den pflegenden Angehörigen zu, anstatt sie zu entlasten. Die Beschäftigten bauen im Rahmen der Familienpflegezeit Zeitschulden auf dem Arbeitszeitkonto auf, die sie später abarbeiten müssen. Reicht das reduzierte Gehalt nicht aus, können sie ein zinsloses Darlehen aufnehmen, müssen sich also finanziell verschulden.

Sie kritisieren außerdem sowohl, dass das Gesetz nichts daran ändert, dass vor allem Frauen die Pflege Familienangehöriger übernehmen, als auch die soziale Spaltung, die das Gesetz befördere. Wollen Sie mehr Männer und Gutverdienende für Pflege begeistern?

Sabine Zimmermann: Es geht vor allem um eine gesellschaftliche Neugestaltung der Sorge- und Erwerbsarbeit. Das alleinige Ziel, mehr Männer und Gutverdienende für Pflege zu begeistern, wäre zu kurz gegriffen. Wir wollen, dass eine professionelle pflegerische Versorgung für alle Menschen gewährleistet ist. Das geplante Gesetz schafft diese Voraussetzung nicht – zumal es 5,6 Millionen Beschäftigte ausschließt, die in Betrieben mit 15 oder weniger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern arbeiten. Betroffen sind vor allem Branchen mit niedrigem Lohnniveau und einem hohen Frauenanteil. Damit geht der Entwurf vollkommen an den Lebensrealitäten vorbei. Denn überwiegend Frauen und Menschen mit niedrigen Einkommen, die sich eine andere Form der Pflege nicht leisten können, übernehmen familiäre häusliche Pflege.

Sie sagen, gute Pflege sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wo liegt aus Ihrer Sicht die Krux bei deren derzeitiger Umsetzung?

Sabine Zimmermann: Gute Pflegepolitik muss die individuelle Teilhabe und Selbstbestimmung für Menschen mit Pflegebedarf ermöglichen. Sie muss den dafür erforderlichen Pflegebedarf zum Maßstab machen und solidarisch finanziert sein. Die Herausforderungen in der Pflegepolitik können nur gemeistert werden, wenn über Fragen der Umverteilung von Reichtum diskutiert wird. Das Konzept der solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung bedeutet: Alle zahlen Beiträge, unabhängig von der Art des Einkommens. So würde eine stabile und gerechte Finanzgrundlage für eine gute und menschenwürdige Pflege geschaffen.

Wie könnten Angehörige und die Pflegebedürftigen selbst konkret entlastet werden?

Pia Zimmermann: Viele Angehörige verausgaben sich, sind erschöpft. Die professionelle Pflege zu stärken und qualitativ weiter zu entwickeln würde Pflegebedürftige und ihr nahes Umfeld wirklich entlasten. Nur so können sich Angehörige ohne körperliche und psychische Belastung und ohne ein ständig schlechtes Gewissen in die Pflege einbringen. Wenn die pflegerische Versorgung grundsätzlich sichergestellt ist, können sie sich entscheiden, ob und wie sie pflegen und unterstützen wollen. Wer sich dann für häusliche Pflege entscheidet, muss entsprechende Arbeitszeit- und Arbeitsorganisationsregelungen ohne berufliche Nachteile erhalten können, zum Beispiel durch eine Verbesserung des Flexi II-Gesetzes. Im Kern geht es also um gute Pflege und um gute Arbeit, und nicht allein um individuelle Freistellungsregelungen.

Professionelle Pflege hat unter den derzeitigen Bedingungen in Deutschland einen ziemlich schlechten Ruf. Überlastetes und unterbezahltes Personal, schlecht versorgte, alte und kranke Menschen in teuren Heimen, in denen es viel zu wenig Plätze und endlose Wartelisten gibt, sind die tägliche Horrorshow für viele Menschen – zu Pflegende, Angehörige und Beschäftigte in Pflegeberufen. Was muss geschehen, um an dieser Situation substanziell etwas zu verändern?

Sabine Zimmermann: Die Pflege ist unterfinanziert, weil die Pflegesätze viel zu niedrig sind. Den Druck geben die Pflegedienste in Form von zu niedrigen Löhnen und einer enormen Arbeitsverdichtung an die Beschäftigten weiter. Darunter leidet auch die Pflegequalität. Nicht nur höhere Löhne, sondern auch mehr Personal in der Pflege sind dringend notwendig. Deshalb fordern wir die Einführung bundesweit verbindlicher Regelungen für eine qualitätsbezogene Personalbemessung.

Pia Zimmermann: Und es braucht ein anderes Verständnis von Pflege, weg von dieser „Pflege kann jeder“-Mentalität, die auch der Regierungspolitik zugrunde liegt. Die Ausbildung muss attraktiver und an die gewachsenen Anforderungen angepasst werden. Das wären Schritte, die letztlich auch Angehörige entlasten. Leider weigert sich die Bundesregierung, diese Schritte zu gehen.

linksfraktion.de, 2. Dezember 2014