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Gregor Gysi im Interview © dpaFoto: dpa

Gregor Gysi: Die Menschen in der DDR kämpften mehr für die Freiheit als Mathias Döpfner

Im Wortlaut von Gregor Gysi, Berliner Zeitung,

Die Veröffentlichung der Zeit über Mathias Döpfner zeigt sein erschreckendes Verhältnis zu Ostdeutschland. Das ist Diskriminierung. Ein Gastbeitrag von Gregor Gysi

 

Springer-Chef Döpfner hat mit seiner Geringschätzung, ja Verachtung gegenüber den Ostdeutschen, wenn die von der „Zeit“ zitierten Äußerungen stimmen, klar gemacht, was er von Demokratie, Meinungsfreiheit und gesellschaftlichem Dialog hält – nullkommanichts, es sei denn, man stimmt völlig mit ihm überein. So soll er u.a. in Mails und SMS kundgetan haben: „Die ossis sind entweder Kommunisten oder faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig.“

Zugleich hielt er als Verlagschef die Bild-Redaktion an, im letzten Bundestagswahlkampf eine Partei, die FDP, nach oben zu schreiben. Da er Frau Merkel ablehnte, war auch die Union bei ihm vorübergehend abgeschrieben. Frau Merkel stammt bekanntlich aus dem Osten. Eigentlich sollte es eine redaktionelle Unabhängigkeit geben, die Medien gelten als vierte Gewalt im Staat, mit der Aufgabe betraut, die anderen Gewalten objektiv und kritisch zu begleiten – bei Springer und Döpfner geschenkt.

Seine Äußerungen widersprechen so sehr dem, was demokratischer Standard in unserem Land sein sollte, dass Döpfner als Verlagschef nicht mehr haltbar ist, wenn Springer als Medienunternehmen ernst genommen werden will.

Am schlimmsten empfinde ich, dass Matthias Döpfner den Ostdeutschen de facto die Daseinsberechtigung in unserem demokratischen Gemeinwesen abspricht. Er wünscht sich „aus der ehemaligen ddr eine Agrar und Produktions Zone mit Einheitslohn (zu) machen“. Man stelle sich mal vor, jemand hätte ähnliches für den Westen vorgeschlagen?! Selbstverständlich macht das keiner. Bemerkenswert ist auch das Datum, dass Döpfner für seine Äußerungen wählte – den Oktober 2019, als sich zum 30. Mal der Aufbruch der DDR-Bevölkerung jährte. Das ist eine beispiellose Infamie. Die Döpfners tragen für die heutige Haltung der Ostdeutschen zum Gesamtstaat, die verbreitete Ablehnung der bundesdeutschen Strukturen eine große Verantwortung.

Die Demonstrantierenden in Plauen, Leipzig, Berlin und vielen anderen Städten haben erfolgreich für Freiheit und Demokratie in der DDR gekämpft. Nicht Helmut Kohl und seine Bundesregierung und schon gar nicht der Springer-Konzern brachten die Freiheit in den Osten, sondern diese Demonstrantinnen und Demonstranten im Osten selbst. Der 9. Oktober 1989 mit der großen Demonstration in Leipzig gilt heute als entscheidendes Symbol des Aufbegehrens. Friedrich Schorlemmer sagte, dass sich in seinen Augen an diesem 9. Oktober auch Weltgeschichte entschied. Ich denke, er hat Recht. Die Menschen, die 1989 den Mut besaßen und auf dem Leipziger Ring zur größten unangemeldeten Demonstration in der DDR zusammenkamen, haben Geschichte geschrieben. Und sie haben mehr für die Demokratie und die Freiheit getan, als es Matthias Döpfner je tat. Freiheit ist übrigens erst dann vollendet, wenn sie zur Befreiung führt. Viele Menschen im Osten fühlen sich aber nicht befreit. Und Döpfner will für sie auch das Gegenteil.

Die Bereitschaft der Menschen in der DDR vor 30 Jahren, bis dahin Unerhörtes einfach zu tun, mit Massendemonstrationen, neuen Parteien und Organisationen das Machtsystem der SED in Frage zu stellen, ohne es gewaltsam beseitigen zu wollen, folgte einem urdemokratischen Impuls, der auch den heutigen Verhältnissen durchaus guttäte. Die Runden Tische zum Beispiel waren ein demokratisches Instrument, dessen wir uns wieder aktiv erinnern sollten bei der Lösung aktueller Probleme. Die Friedlichkeit hatte zwei Seiten: „Keine Gewalt“ durch Demonstrierende und der Verzicht darauf bei den Soldaten, bei der Polizei nicht gleich, aber ab 9. Oktober 1989. Es ist eine beachtliche Leistung, dass während des Umbruchs kein einziger Schuss fiel von keinem aus den so genannten bewaffneten Organen der DDR (Polizei, Armee, Zoll, Staatssicherheit, Kampfgruppen). Beides ist zu würdigen, nicht Schwarz-Weiß, sondern das große Dazwischen bestimmt den Lauf der Geschichte.

Der Prozess des Machtwechsels geschah einzigartig, in äußerst strittigem Dialog und nicht mit rigorosen Konsequenzen für die alten Machthaber. Manchen erscheint das inkonsequent, aber aus meiner Sicht zeigt sich gerade darin eine demokratische Kraft und Reife, die zugleich dafür sorgte, dass der Alltag für die Menschen weiter lief. Diese Größe hatte die Bundesrepublik im Umgang mit den alten Machthabern der DDR nicht.

Springer-Chef Döpfner hat für die Ostdeutschen und all diese Vorgänge nur Verachtung übrig und steckt damit den ostdeutschen Teil der Bevölkerung unseres Landes in die Schubladen seines Kleingeistes. Letztlich drückt er allerdings dadurch zugespitzt das aus, was an Fehlern im Einheitsprozess gemacht wurde. Die Deutschen aus der DDR hatten nach dem 3. Oktober 1990 das Gefühl, zu Deutschen zweiter Klasse zu werden. Die Bundesregierung konnte damals nicht aufhören zu siegen. Die Regierenden strahlten nicht nur eine gewisse Arroganz aus, sondern waren vor allem nicht bereit, sich die DDR genau anzuschauen und sinnvoll positive Seiten aus ihr im vereinten Deutschland zu bewahren. Ich erinnere an den deutlich höheren Grad der Gleichstellung der Geschlechter im Vergleich zur alten Bundesrepublik. Man darf auch an die Berufsausbildung mit Abitur, die Polikliniken und die Art und Weise der Sekundärrohstofferfassung erinnern. Hätte die Bundesregierung solche Seiten übernommen, wäre das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gestärkt und nicht nach unten gedrückt worden. Wir hätten uns gesagt: Wir hatten zwar eine Diktatur, aber sechs Gegebenheiten waren so gut, dass sie jetzt in ganz Deutschland gelten. Die Westdeutschen hätten erlebt, dass sich ihre Lebensqualität in diesen sechs Gebieten durch den Osten erhöht hätte. Das ist ihnen nicht gegönnt worden. All das hat Konsequenzen für das Denken und Fühlen in West und Ost bis heute.

Die Lohnlücke zwischen Ost und West besteht nach wie vor. Das gilt auch für ungleiche Arbeitszeit, natürlich im Osten länger als im Westen. Für die gleiche Lebensleistung gibt es nach wie vor keine gleiche Rente. Erst ab Ende Juli diesen Jahres, 33 Jahre nach Herstellung der Einheit, sind die Rentenwerte nominell angeglichen, aber die Ungleichbehandlung in vielen Berufsgruppen, zum Beispiel bei Polizistinnen und Polizisten, Ingenieurinnen und Ingenieuren bis zu mithelfenden Angehörigen privater Handwerkerinnen und Handwerker bleibt.

Bemerkenswert ist, dass es praktisch keine Änderung gibt seit über 30 Jahren. Der Lohnabstand zwischen West und Ost wird nicht wirklich kleiner. Das ist schlicht und einfach skandalös. Seit 1995, als in den westdeutschen Unternehmen die 35-Stunden-Woche erkämpft wurde, musste ein Metaller im Osten 4000 Stunden länger arbeiten – das sind zwei Arbeitsjahre. Die Gewerkschaften taten zu wenig. Dass es so ist, liegt aber auch daran, dass sich die Bundesregierung nie für eine wirkliche Einheit energisch einsetzte. Jeder kleine Schritt musste ihr abgerungen werden. Angela Merkel, der Kanzlerin aus dem Osten, war der Osten leider auch nicht wichtig.

Es zeigt sich auch daran, dass nur eine von 33 Staatssekretärinnen und Staatssekretären in den Bundesministerien der Ampel-Koalition und nur vier von 111 Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern aus dem Osten kommen - dreieinhalb Prozent bei einem Bevölkerungsanteil von 15 Prozent. Von 73 Bundesbehörden, die es in Deutschland gibt, werden nur drei von Ostdeutschen geleitet. Das ist schon deshalb grundgesetzwidrig, weil dort nicht nur gleiche Lebensverhältnisse, sondern auch eine angemessene Beteiligung sämtlicher Bundesländer auf der Leitungsebene des Staates gefordert werden.

Dass bei Löhnen und Renten zwischen Ost und West endlich Augenhöhe hergestellt wird, ist auch eine Frage des Respekts und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Den Ostdeutschen und dem Osten wurde seit 1990 nie das Gefühl von Gleichwertigkeit vermittelt. Die reale und gefühlte Benachteiligung wurde auch auf die Generationen übertragen, für die die Wende ebenso wie der Mauerfall Ereignisse aus Geschichtsbüchern sind, die sie sich kaum vorstellen können. Dennoch erleben sie selbst und in ihren Familien, worauf sich das Gefühl, benachteiligte Menschen zu sein, gründet. Dies verschwindet erst dann, wenn es keine konkreten Benachteiligungserfahrungen mehr gibt, deutlich mehr für Arbeitsplätze und Jugend im Osten getan wird und Menschen mit Haltungen wie Matthias Döpfner es strikt unterlassen, Menschen derart herabzuwürdigen, wie er es mit den Ostdeutschen tut.

Berliner Zeitung,