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Gegen Erfassungswahn und Geheimpolitik

Im Wortlaut von Jan Korte,

16 Punkte für Transparenz und Datenschutz

 

Von Jan Korte, Leiter des Arbeitskreises Demokratie und Mitglied des Vorstandes der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

 

Snowdens jüngste Enthüllungen machen deutlich, welches unfassbare Ausmaß die staatliche Datensammelwut inzwischen weltweit erreicht hat. Noch nie war die reale Situation so nah an der Orwellschen Fiktion der Totalen Überwachung wie heute.

Die Regierungen machen von den Möglichkeiten, die ihnen die Verbreitung des Internets als Kommunikationsmittel und der technische Fortschritt bieten, hemmungslos Gebrauch. Die Aufregung der Bundesregierung über die Ausspähprogramme der NSA ist unglaubwürdig, die „befreundeten“ Geheimdienste arbeiten seit dem Kalten Krieg eng zusammen und Deutschland nimmt gerne Informationen ausländischer Geheimdienste entgegen ohne groß zu fragen, woher sie kommen: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.

Es kann sein, dass der Bundesregierung das Ausmaß der amerikanischen Spionage gegenüber ihr selbst und den EU-Einrichtungen nicht bekannt war. Das Ausspionieren der Bevölkerung war ihr jedoch bekannt, denn sie hat dies in unterschiedlichen Abkommen zum Datenaustausch selbst verhandelt. Auf EU-Ebene wurde gegen Widerstand einer kritischen Öffentlichkeit und der inner- und außerparlamentarischen Opposition u. a. der Austausch von Fluggastdaten (PNR), Bankdaten (SWIFT) und die Vorratsdatenspeicherung vereinbart.

Der bisherige Umgang mit dem Skandal ist inakzeptabel. Während sich Bundeskanzlerin und Bundesinnenminister im Nichtstun überbieten, liefern die Präsidenten von Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und Bundesnachrichtendienst (BND) vor dem Innenausschuss des Bundestages regelmäßig nicht hinnehmbare Auftritte ab: Die trivialen Informationen, die sie dort herausgeben, sind kalter Kaffee und wurden meist in den Medien bereits veröffentlicht. Sie verhindern die dringend nötige Aufklärung mehr, als zu dieser endlich einen substanziellen Beitrag zu leisten.

Statt mit leeren Worthülsen zu agieren, sollte die Bundesregierung ein Konzept zur Beschränkung von Datensammlung und Datenspeicherung zum Schutz der Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger ausarbeiten und auf dessen Umsetzung auch gegenüber der EU und den USA drängen. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel der deutschen und europäischen Innen-, Außen- und Sicherheitspolitik!

Jedes Datum ist schützenswert und birgt enormes Repressionspotenzial gegenüber den Grundrechten der Bürgerinnen und Bürger. Da es - wie schon das Bundesverfassungsgericht im legendären Volkszählungsurteil 1983 festgestellt hat - durch die technische Möglichkeit alles mit allem zu verknüpfen, kein harmloses Datum mehr gibt, ist durch strenge Regularien ein umfassender Datenschutz sicher zu stellen und maximale Transparenz zu gewährleisten.

Dazu erforderlich sind folgende Sofortmaßnahmen:

  • Die Offenlegung der Kooperationen zwischen deutschen und US-Geheimdiensten, die Offenlegung des Datentransfers über Europol nach Qualität und Quantität, die Offenlegung etwaiger Einflussnahme der USA auf die Arbeiten an der EU-Datenschutzgrundverordnung;
  • Die Offenlegung aller mit den US-amerikanischen, europäischen und deutschen Telekommunikationsunternehmen getroffenen Vereinbarungen über die Datenweitergabe an deutsche, europäische oder US-Geheimdienste oder sonstige staatliche Stellen;
  • Die Aufnahme von Snowden in der Bundesrepublik und sein dauerhafter Schutz vor Auslieferung an die USA;
  • Ein Moratorium und die unabhängige Evaluation aller seit 2001 verabschiedeten nationalen Sicherheitsgesetze und sonstiger Regelungen zum Zugriff auf Bürgerdaten; der Rückzug der Geheimdienste aus den sogenannten Abwehrzentren [Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ), Gemeinsames Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ)];
  • Die Veröffentlichung der Berichte des Bundesamts für Verfassungsschutz, des Bundesnachrichtendienstes und des militärischen Abschirmdienstes an das Parlamentarischen Kontrollgremium, die G10-Kommission, das Vertrauensgremiums und an den Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt seit 2001; Aufhebung der Geheimhaltungspflicht für die Mitglieder dieser parlamentarischen Kontrollgremien zunächst für alle Vorgänge, die im Zusammenhang mit Prism und Tempora eine Rolle spielen; Außerdem die umfassende und kontinuierliche Berichterstattung an den Innen- und Rechtsausschuss des Bundestags;
  • Das Aussetzen und Neuverhandeln der SWIFT-, PNR-, und Safe-Harbour-Abkommen mit den USA mit u. a. der Maßgabe die Auskunftsrechte und den Rechtsschutz von Nicht-US-Bürgerinnen und -Bürgern zu stärken. Außerdem die Einstellung aller laufenden Verhandlungen zu weiteren dementsprechenden internationalen Abkommen. Die Aufrechterhaltung dieser Maßnahmen bis zur endgültigen und vollständigen Offenlegung der bisherigen Ausspionierung der Bürgerinnen und Bürger in Europa, ihrer Institutionen und der Wirtschaft;
  • Der Verzicht auf die Vorratsdatenspeicherung, das heißt die Aufhebung der europäischen Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung (2006/24/EG) sowie die Aufforderung an alle Mitgliedsstaaten die nationalen Umsetzungsgesetze ebenfalls aufzuheben;
  • Wechsel der Forschungsschwerpunkte der Bundesministerien weg von Überwachungs- und Spionagemaßnahmen hin zur Stärkung von anonymer Kommunikation und den Schutz der Privatsphäre für jedermann, sowie die Förderung der Entwicklung von Verschlüsselungstechnologien und -software durch die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten;

Im nächsten Schritt müssen weitere Maßnahmen, u. a. vom nächsten Deutschen Bundestag, ergriffen werden:

  • Die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses durch den nächsten Deutschen Bundestag zur Klärung und Offenlegung des Umfangs deutscher Internetspionage durch BND, BfV und Militärischem Abschirmdienst (MAD) sowie deren Kooperation mit ausländischen Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden, insbesondere mit den USA;
  • Die deutliche personelle und finanzielle Stärkung des Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit im Bereich der Polizei- und Geheimdienstkontrolle und seine Herauslösung aus dem Bundesinnenministerium und Stärkung seiner Unabhängigkeit durch verfassungsmäßige Verankerung als unabhängige Kontrollinstanz;
  • Die gesetzliche Stärkung des Schutzes von Whistleblowern, insbesondere vor Strafverfolgung;
  • Die unabhängige Evaluierung der seit 2001 getroffenen europäischen Abkommen mit den USA, in denen Kooperationen der Geheimdienste, Datenaustausch- oder gemeinsame Datenanalyseprojekte vereinbart wurden, durch eine von der EU und den USA eingesetzte Kommission aus Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftlern und Nichtregierungsorganisationen;
  • Die Überprüfung sämtlicher im Rahmen der sogenannten Schwedischen Initiative verabschiedeten Richtlinien, Verordnungen und der nationalen Umsetzungsgesetze unter den Gesichtspunkten Datenschutz und Grundrechtsschutz; Der Ausbau der europäischen Datenschutzstrukturen mit der zusätzlichen Aufgabe der Analyse der geheimdienstlichen Datenströme und der Einführung einer Kennzeichnungspflicht über die Herkunft der Daten;
  • Veröffentlichung der Schwerpunkte des Haushalts von BND, BfV und MAD (Personal, Technik, Projekte) seit 1990 und die Aufhebung der Geheimhaltung der Haushalte;
  • Ein Bericht über die Tätigkeit des Spionagenetzwerks Echelon, durch die Regierungen der involvierten Geheimdienste USA, Großbritannien, Australien, Neuseeland und Kanada unter Offenlegung des Aufgabenbereichs und der Arbeitsweise des Netzwerks sowie deren Kontrolle, die Veröffentlichung etwaiger in diesem Zusammenhang verabschiedeten Verträge oder Kooperationsabkommen zwischen Echelon-Staaten und der EU bzw. ihren Mitgliedsstaaten;
  • Initiative für die Verabschiedung einer verbindlichen Internet-Charta der UN zur Beschränkung von Datensammlung und Datenspeicherung, die die Menschen vor dem virtuellen Spionagewahn von Konzernen, Regierungen und Geheimdiensten schützt und es den Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, ihre Rechte im Internet einzuklagen und gegen deren Verletzung juristisch vorzugehen.