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Für eine soziale Investitionsoffensive

Interview der Woche von Sevim Dagdelen,

 

Sevim Dagdelen, Beauftragte der Fraktion für Integration und Migration, nimmt im Interview der Woche Stellung zu Forderungen nach Obergrenzen für die Aufnahme Geflüchteter in Deutschland, zu einer sozialen Investitionsoffensive und der notwendigen Neuausrichtung in Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik, um Fluchtursachen wirkungsvoll bekämpfen zu können.

 

Horst Seehofer und seine CSU lassen nicht locker und fordern weiter eine Obergrenze für Flüchtlinge in Deutschland. Sie wollen Grenzkontrollen, sehen die EU-Außengrenzen nicht geschützt. 200.000 Flüchtende könne Deutschland maximal pro Jahr verkraften. In 2015 waren es über eine Million Menschen. Ist das Gelingen von Versorgung und Integration tatsächlich an Höchstgrenzen gebunden?

Sevim Dagdelen: Mit dem ständigen Ruf nach einer Obergrenze fordern Seehofer und die CSU nichts anderes als den institutionalisierten Rechts- und Verfassungsbruch. Auf das Grundgesetz kann sich die CSU mit ihrer Forderung nach einer Obergrenze aber genau so wenig stützen wie auf die Genfer Flüchtlingskonvention, die Europäische Menschenrechtskonvention, ja nicht einmal auf diverse EU-Asylrichtlinien und die EU-Grundrechte-Charta. Es geht nicht darum, wie viele Flüchtlinge Deutschland sich leisten kann, sondern will. Flüchtlinge verursachen nicht die Probleme, sondern machen bestehende nur deutlicher. Geld ist genug da, es fehlt nur der Wille, es gerecht zu verteilen. Wer wie bei der Bankenkrise nun erneut die Profiteure wie die Vermögenden nicht zur Kasse bittet, provoziert bewusst nach Lichtenhagen und Hoyerswerda, Solingen und Mölln in den 90er Jahren erneut eine pogromartige Stimmung gegen Geflüchtete. Wer die finanziellen Mittel für Integration durch Kürzungen bei sozialen Belangen hereinholen will, wie die Bundesregierung es tut, schürt Rassismus und Ressentiments gegen Flüchtlinge. Gerade die CSU sollte das S in ihrem Namen wiederentdecken und nicht weiter gegen die Flüchtlinge hetzen, sondern endlich die Fluchtursachen bekämpfen.

Was sind denn die hauptsächlichen Fluchtursachen?

Eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung, die Hunger und Elend produziert und aus der Krisen und Kriege erwachsen. Letztlich führt sie zur Flucht. Aber auch die gesamte Politik der Regimewechsel an der Seite der USA schafft tägliche neue Fluchtgründe. Erst wird Saddam Hussein weggebombt, dann Gaddafi; dann soll Assad weg, während man mit Diktaturen wie Saudi-Arabien beste Geschäfte macht. Seit Jahren hat Westen dazu beigetragen, dass viele Staaten der Welt destabilisiert sind – ökonomisch, ökologisch und politisch. Heute haben wir es mit den Konsequenzen zu tun, die am deutlichsten in Form der Millionen Flüchtlinge zu erkennen sind, weil sie nun bis zu uns kommen. Davon ist seitens Seehofers und der CSU nichts zu hören. Im Gegenteil. Ganz nach dem Motto „Frieden schaffen nur mit Waffen“, stört man sich nicht an den gestiegenen Rüstungsexporten an Diktaturen wie Saudi-Arabien. Statt rechtspopulistischen Wettbewerbs mit der AfD brauchen wir eine friedliche Außen- und gerechte Handelspolitik, um nicht immer neue Fluchtursachen zu schaffen. Ein sofortiger Rüstungsstopp ist dabei das Mindeste.

Angela Merkel steht wegen ihrer „Wir schaffen das“-Haltung auch in anderen europäischen Ländern in der Kritik. Es gab im Sommer bereits Spannungen mit Österreich, Schweden und Dänemark haben Grenzkontrollen eingeführt. Und gleichzeitig gibt es in Europa keine Einigkeit über Umgang mit und Verteilung von Geflüchteten. Was muss hier geschehen?

Vorgeschlagene Quotenmodelle sind jedenfalls keine Lösung, genau so wenig wie eine noch repressivere Flüchtlingsabwehr. Natürlich müssen wir die Schutzsuchenden aufnehmen, auch wenn andere sich weigern. Wir können sie auch nicht in Länder schicken, wo sie keine menschenwürdigen Aufnahmebedingungen und Asylverfahren vorfinden. Wir wollen Geld und nicht Menschen hin und her schieben. Schutzsuchende sollen selbst entscheiden können, in welchem EU-Staat sie ihr Asylverfahren durchlaufen. Etwaige Ungleichheiten bei der Aufnahme müssen dann durch finanzielle Ausgleichfonds kompensiert werden. Damit können sich EU-Staaten, die weniger Geflüchtete aufnehmen, nicht aus der Verantwortung für den Flüchtlingsschutz stehlen.

Viele Menschen in Deutschland haben Angst, jetzt zu kurz zu kommen –dass die Wohnungsnot noch eklatanter wird, dass sie über steigende Krankenkassenbeiträge die Versorgung der Geflüchteten mitbezahlen müssen, die dann auf dem Arbeitsmarkt als Dumping-Konkurrenz die Jobs abgreifen. Unbegründet?

Flüchtlinge verursachen nicht die Probleme, sondern machen die bestehenden nur deutlicher. In den vergangenen 20 Jahren wurden im öffentlichen Dienst rund eine Million Stellen abgebaut. Infolge der Privatisierungen verfügen die Kommunen über kaum noch eigenen Bestand, den sie als sozialen Wohnraum anbieten können. Die völlig verfehlte Wohnraumpolitik hat auch zur sozialen Entmischung und in deren Folge auch zu ethnischen Ballungszentren geführt.

Notwendig ist eine soziale Offensive mit mehr Investitionen in Bildung, sozialen Wohnungsbau und Gesundheitswesen. Geld ist genug da. Es fehlt nur der Wille, es gerecht zu verteilen. Wir brauchen dringend eine Erneuerung des Sozialstaats, was Arbeit, Rente, Gesundheit, Soziale Sicherheit und Wohnen angeht. Wir müssen gerade jetzt Reiche und Vermögende stärker belasten. Die Einführung einer Millionärssteuer ist lange überfällig. Reiche und Superreiche sollen den Tisch für die Flüchtlinge decken.

Pegida und AfD bedienen eine weitere Angst: die vor vermeintlicher „Überfremdung“, insbesondere durch Menschen aus islamisch geprägten Ländern. Nach den Übergriffen auf Frauen in Köln während der Silvesternacht überschlagen sich die Kommentatorinnen und Kommentatoren in sozialen Netzwerken, aber auch im Alltag mit Forderungen, von denen die nach „Ausweisung“ solch „kriminellen Packs“ noch zu den gemäßigteren gehört. Was ist nötig, damit Integration gelingen kann? Geht es dabei nur um die neu in unserer Gesellschaft Angekommenen?

Offenbar hatten die Täter Silvester eine klare kriminelle Motivation. Wobei Diebstähle und Sexualdelikte verzahnt wurden. Hier muss mit aller rechtsstaatlicher Konsequenz vorgegangen werden. Die Kölner Polizei hat gerade auf der Führungsebene versagt. Völlig inakzeptabel ist allerdings das Schüren von rassistischen Ressentiments im Nachgang der schlimmen Übergriffe. Flüchtlinge, Muslime oder Migranten pauschal für diese verabscheuungswürdigen Taten in Haftung nehmen zu wollen, leistet einer neuen rassistischen Gewaltwelle Vorschub. Man stelle sich einmal vor, die Taten der NSU-Terrorbande würden pauschal der deutschen Bevölkerung zugerechnet. Wer so argumentiert, zerstört ganz bewusst den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir müssen Sexualdelikte und Vergewaltigungen konsequenter ahnden, auch um die gesellschaftliche Ächtung dieser Straftaten voranzutreiben. Wir brauchen einen stärkeren Schutz vor sexuellen Übergriffen egal welchen Hintergrund die Täter haben.

Welche Perspektive bieten wir den Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind? Und was erwartet die Mehrzahl von ihnen? „Gekommen, um zu bleiben“?

Nun, uns geht es um eine schnelle Integration von Anfang an, denn die Mehrheit der Asylsuchenden wird dauerhaft in Deutschland bleiben. Dazu würde im Übrigen durchaus auch Sensibilisierung bezüglich sexualisierter Gewalt und sexueller Belästigung und deren gesellschaftliche Ächtung gehören – etwas, das wir seit Jahren generell fordern. Dies beinhaltet vor allem aber auch einen Zugang aller Asylsuchenden zu Integrations- und Sprachkursen und eine Strategie der Arbeitsmarktintegration statt rechtlicher und faktischer Arbeitsverbote. Der Bund soll alle Kosten der Aufnahme, Unterbringung und (auch medizinischen) Versorgung von Asylsuchenden übernehmen, denn Flüchtlingsschutz ist eine internationale Verpflichtung, deren Kosten nicht den oftmals überforderten Kommunen aufgebürdet werden dürfen. Darüber hinaus brauchen wir bundesweit geltende einheitliche Mindeststandards für die Aufnahme und Unterbringung von Geflüchteten, die eine verlässliche und langfristige Planung und Organisation ermöglichen. Die Länder und Kommunen bleiben in der Verantwortung, indem sie vor Ort die Integration der Asylsuchenden und Schutzberechtigten fördern und gewährleisten, etwa in den Bereichen Schule, Kultur, zivilgesellschaftliches Engagement sowie unterstützend auch bei der Arbeits- und Wohnungsvermittlung. Statt immer neuer Abschreckungsdebatten und wohlfeilen Ansagen „Wir schaffen das“ muss endlich eine soziale Integrationspolitik in Verknüpfung mit einer Erneuerung des Sozialstaats für Alle auf die Tagesordnung.

Um das zu erreichen, muss endlich eine sozial gerechte Politik eingeleitet und für eine effektive Besteuerung des Reichtums in Deutschland gesorgt werden, sodass die notwendigen Mittel für die Aufnahme von Flüchtlingen rasch bereitgestellt werden können.

 

linksfraktion.de, 11. Januar 2016