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Für eine Pflegereform ohne Kostenvorbehalt!

Im Wortlaut von Pia Zimmermann,

 

Von Pia Zimmermann (MdB), pflegepolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

 

Seit Jahren fordern wir, DIE LINKE, gemeinsam mit Sozialverbänden, Gewerkschaften und Betroffenenorganisationen von der Bundesregierung endlich die Einführung und Umsetzung des neuen Pflegebegriffs. Diese geht die Koalition nun endlich an und rühmt sich für einen „Paradigmenwechsel in der Pflege“. Damit sich die Bedingungen in der Pflege für zu Pflegende, Beschäftigte und Angehörige aber nachhaltig verbessern, muss mehr passieren als das, was von der Bundesregierung nun per Referentenentwurf auf den Tisch gelegt wird.

Überfällig war die Neudefinition des Pflegebegriffs seit Jahren, weil der bisherige Begriff Menschen mit demenziellen Erkrankungen systematisch ausschließt und nicht auf Teilhabe orientiert. Hier wird nun endlich nachgebessert und der Kreis der Anspruchsberechtigten um ca. 500.000 Menschen erweitert. Die vorliegenden Studien zur Erprobung des neuen Pflegebegriffs und des neuen Begutachtungsassessments (NBA) lassen aber  Schlechterstellungen für neueingestufte zu Pflegende  befürchten. Etwa ein Viertel der Personen, die nach dem derzeitigen Modell Pflegestufe 1 oder 2 hätten, würden im  zukünftigen Verfahren einen Pflegegrad unterhalb dieses Niveaus erhalten; im Verhältnis erhielten sie also weniger Leistungen.

Neuausrichtung in technokratischer Umsetzung erstickt

Sicher ist: Die Mehreinnahmen aus den Beiträgen zur Pflegeversicherung von etwa 2,4 Milliarden Euro jährlich reichen nicht aus, um die entstehenden Mehrkosten zu decken. Der neue Pflegebegriff darf jedoch nicht dazu führen, dass weiterhin unterschiedliche Gruppen von Menschen mit Pflegebedarf gegeneinander ausgespielt werden, nur um die Kosten zu deckeln.

Die Umsetzung des neuen Pflegebegriffs betrifft sämtliche Pflegebereiche und braucht deshalb Zeit. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Expertenbeirates zur Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes empfehlen 18 Monate Einführungszeit. Die Bundesregierung will das in zwölf Monaten schaffen. Nach jahrelanger Untätigkeit folgt jetzt also ein Eilverfahren. Das setzt alle Beteiligten unter hohen Handlungsdruck. Was dabei auf der Strecke zu bleiben droht: die fundierte Einbeziehung aller beteiligten Akteure. Für eine Stellungnahme zum Entwurf des Pflegestärkungsgesetzes II hatten die Verbände nur zwei Wochen Zeit. Der eigentliche Kern eines nötigen Paradigmenwechsels – eine umfassende Neuausrichtung der pflegerischen Versorgung an Teilhabe und einem ganzheitlichen Pflegeverständnis - droht in technokratischen Umsetzungsfragen verschüttet zu werden.

Das neue Begutachtungsinstrument wird künftig die Beeinträchtigung der Selbständigkeit der zu Pflegenden sehr viel genauer abbilden können als bisher – also auch die verbliebenen eigenen Fähigkeiten und die noch vorhandene Selbständigkeit erfassen und in eine individuelle Versorgungsplanung, die endlich für jede und jeden Betroffenen möglich sein muss, einbeziehen können. Doch es geht um mehr als eine Begutachtungsreform.

Steigender Versorgungsaufwand braucht mehr Personal

Das neue Pflegeverständnis erfordert vor allem mehr hochwertige professionelle Pflege. Doch der Zugang für Menschen mit Pflegebedarf mit niedrigen Pflegegraden zu stationären Einrichtungen wird erschwert, ohne dass die häusliche Pflege in ihrer Qualität und professionellen Unterstützung gestärkt würde. Das neue Pflegeverständnis muss außerdem konsequent in allen Leistungsbereichen verankert werden, unabhängig von der Versorgungsform oder vom Pflegegrad, auch im SGB V und im SGB XII.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Expertenbeirates haben immer wieder darauf hingewiesen, dass der pflegerische Versorgungsaufwand mit der Einführung der neuen Pflegegrade steigen wird. Doch die Bundesregierung erklärt ausdrücklich, keine Vorgaben zur Personalbemessung machen zu wollen. Das gefährdet nicht nur die Pflegequalität durch zu befürchtende Mehrarbeit für die Pflegekräfte. Problematisch werden auch die Neuverhandlungen der Pflegesätze in stationären Einrichtungen. Steigender Versorgungsaufwand braucht mehr Personal. Ohne qualitätsorientierte Personalbemessungsinstrumente drohen Vergütungsregelungen in stationären Pflegeeinrichtungen, die entweder zu Leistungseinschränkungen oder zu Mehrbelastungen für das Personal führen. Das öffnet Tür und Tor, den Leistungsdruck durch Arbeitsverdichtung an die Beschäftigten weiter zu geben.  

Alle entstehenden Kosten, auch die für Tarifbindung und Qualitätsentwicklung, müssen von den Kostenträgern refinanziert werden. Sonst werden die Eigenanteile für die Menschen in stationären Pflegeeinrichtungen und ihre Familien langfristig weiter steigen. Es reicht nicht, die Eigenanteile einheitlich für alle Pflegegrade zu deckeln, wenn die rasant steigenden Investitionskosten in Pflegeheimen weiter steigen. Die Konsequenz wäre wachsende Sozialhilfebedürftigkeit.

LINKE streitet für solidarische Pflegeversicherung

Die Bundesregierung versucht die Quadratur des Kreises: den Paradigmenwechsel unter Kostenvorbehalt. Jährliche Leistungsdynamisierungen fehlen ebenso wie die Einführung einer Solidarischen Pflegeversicherung. Schon jetzt greift die Bundesregierung in die Liquiditätsreserve der Pflegeversicherung, anstatt den vielfach kritisierten Vorsorgefonds aufzulösen. Wer ein neues, bedarfsdeckendes Pflegeverständnis nachhaltig sichern will, kommt an der solidarischen Umlagefinanzierung nicht vorbei. DIE LINKE hat hierfür mit ihrem Antrag „Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in der Pflege – Solidarische Pflegeversicherung einführen“ ein Konzept vorgelegt, das Musik in die Debatte im Herbst bringen wird. Alle Bürgerinnen und Bürger müssen einbezogen werden. Alle zahlen den gleichen Beitragssatz auf ihr gesamtes Einkommen. Niemand wird aus der Verantwortung entlassen – weder durch eine Privatversicherung noch durch eine Beitragsbemessungsgrenze, die die höchsten Einkommen entlastet. Dadurch kann der Beitragssatz für alle niedrig gehalten werden.

Ohne Systemwechsel in der Finanzierung  wird es dauerhaft keine gute Pflege und keine guten Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte geben.

linksfraktion.de, 10. Juli 2015