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Für eine ökologisch verträgliche Mobilitätspolitik

Im Wortlaut von Herbert Behrens,

Beitrag zur Serie "Was ist systemrelevant?"

Von Herbert Behrens, MdB aus Niedersachsen





Zukunft gestalten, das Leben lebenswerter machen, gemeinsam eine Politik im Interesse der Mehrheit der Menschen entwickeln – das ist wichtig für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Daran haben auch die Menschen in Niedersachsen Interesse. Doch sie werden mit anderen angeblich systemrelevanten Themen belagert: Die herrschende niedersächsische Politik will "Finanzmärkte beruhigen", die Wirtschaft voranbringen und dafür Barrieren beseitigen, die den freien Markt behindern könnten.

In der Verkehrspolitik in Niedersachsen wird zunehmend auf Privatinvestoren gesetzt, wenn die öffentlichen Haushalte wegen der Schuldenbremse nicht mehr das bezahlen können, was getan werden muss. Und es wird eine Verkehrspolitik gemacht, die vorrangig die wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen dient, die beim Bau der Infrastruktur und anschließend mit dem darauf abgewickelten Verkehr ihr Geld machen.

Der öffentliche Verkehr wird benachteiligt

In Niedersachsen erleben wir seit Jahrzehnten eine systematische Förderung von Verkehrsarten, die weder den Menschen noch der Umwelt gut tun. Gefördert und bezuschusst wird der Straßenverkehr, begünstigt und subventioniert wird der Luftverkehr, benachteiligt wird der öffentliche und hier insbesondere der Schienenverkehr.

In Niedersachsen steht bei den Ausgaben für Mobilität das Straßenverkehrsnetz an erster Stelle. Aktuell wird der Bau der "Küstenautobahn" A 22/20 vorangetrieben, zwischen Wolfsburg und Lüneburg soll die A 39 gebaut werden. Und wo in die Schieneninfrastruktur investiert wird, steht beispielsweise das Milliardenprojekt "Y-Trasse“ auf der Agenda. Allein diese drei Maßnahmen verschlingen 6,4 Milliarden Euro1.

Wer aber eine ökologisch verträgliche Mobilitätspolitik will, der muss sich mit dem Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und des nicht-motorisierten Individualverkehrs beschäftigen. Nur diese Politik wird den Anforderungen von Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit gerecht.
Mit den genannten 6,4 Milliarden Euro können die Häfen an der Nordseeküste besser angebunden, Schienenstrecken reaktiviert, der öffentliche Personennahverkehr verbessert und der innerstädtische nicht-motorisierte Verkehr gefördert werden.

Monostruktur im Autoland

Solchen Plänen wird entgegen gehalten, die Bedeutung Niedersachsens als "das Autoland“ nicht wahrzunehmen. Die Automobilindustrie stelle einen wichtigen Wirtschaftsfaktor in Niedersachsen dar, heißt es. Das ist richtig, wenn wir uns die Wertschöpfung der Arbeitsplätze in der Automobilindustrie anschauen. Aber es kommen Zweifel auf, wenn wir sehen, dass die Abhängigkeit Niedersachsens von der Automobilindustrie sehr groß ist – dieser Sektor macht mehr als 40 Prozent der industriellen Wertschöpfung Niedersachsen aus. Ab welchem Anteil müssen wir von einer Monostruktur sprechen?

Zweifel entstehen, wenn wir uns die Bilanz der automobilen Höchstproduktion anschauen. Waren allein bei der VW AG im Jahr 2003 rund 104.000 Menschen beschäftigt, lag die Zahl der Beschäftigten 2011 noch rund 98.000. Davon arbeiteten 84.000 VW-Arbeiter in Niedersachsen (minus 5000 gegenüber dem Jahr 2003). Der Umsatz der VW AG stieg von 45 Milliarden Euro (2003) auf 67 Milliarden Euro im Jahr 20112. Die Beschäftigung sinkt um 15 Prozent, während der Umsatz um 49 Prozent steigt. Jede und jeder Beschäftigte der VW AG schafft binnen acht Jahren 74 Prozent mehr Umsatz!

Wie wollen wir zukünftig arbeiten und leben?

Wer sich heute ernsthaft mit der Zukunft der Automobilindustrie und der dort Beschäftigten befasst, der kommt um die – wie ich sie verstehe – systemrelevante Frage "Wie wollen wir zukünftig arbeiten und leben?" nicht herum.

Die Verkehrspolitik von morgen soll eine "3-V-Politik‘“ sein. Das bedeutet, Verkehr VERMEIDEN, Verkehrswege VERKÜRZEN und den verbleibenden Verkehr VERLAGERN. Selbst die Mitarbeiter in der Regierungskommission Klimaschutz kommen in ihren "Empfehlungen für eine niedersächsische Klimaschutzstrategie" zum Ergebnis: "Eine wichtige Voraussetzung zur Reduzierung von Verkehrsleistung ist die Schaffung verkehrsarmer Siedlungsstrukturen“, und es wird weiter argumentiert, dass Verkehrsvermeidung eine "unmittelbare Verminderung der CO2-Emissionen zur Folge"3 hat.

Verkürzte Wege zur Schule, zur Arbeit, zum Einkauf und anderes mehr sind die logische Folge "verkehrsarmer Siedlungsstrukturen". Die Wiederentdeckung der Städte und der Nähe könnte eine Folge einer Politik sein, die Mobilität nicht übersetzt mit "ständig auf Achse sein“.

Mehr Lebensqualität und nachhaltige Mobilität gehören zusammen

Bei der Verlagerung von Verkehr dürfen wir nicht bei der Verlagerung des Güterverkehrs auf die Eisenbahn und die Binnenschifffahrt stehen bleiben. Öffentlicher Personennahverkehr kann auch im Flächenland Niedersachsen eine größere Rolle übernehmen. Der Radanteil am gesamten Verkehrsaufkommen in Niedersachsen liegt heute schon bei 15 Prozent. Eine Verdoppelung des Anteils in Städten (wie in den Niederlanden) ist realistisch und im niedersächsischen Landkreis Grafschaft Bentheim heute schon erreicht.

Mobil sein, heißt selbstständig zu sein und frei entscheiden zu können. Mehr Lebensqualität und eine ressourcenschonende, nachhaltige Mobilität gehören zusammen. Dazu wollen wir die notwendigen Verkehrsmittel anbieten. Was noch dazu gehört, haben wir Verkehrsfachleute der Linksfraktion im Bundestag gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung im alternativen Verkehrsplan für Niedersachsen beschrieben4. Er ist Bestandteil der Idee für eine Politik im Interesse der Mehrheit der Menschen – er ist für die Menschen in Niedersachsen relevant. Und für das System?

1 Investitionsrahmenplanung 2011–2015f. Verkehrsinfrastruktur des Bundes
2 Antwort der niedersächsischen Landesregierung auf eine kleine Anfrage, Drucksache 16/5070

3 Niedersächsisches Ministerium für Umwelt, Energie und Klimaschutz: Empfehlungen für eine niedersächsische Klimaschutzstrategie, Hannover 2012, S. 114

4 Fraktion DIE LINKE. im Bundestag: Niedersachsen – sattelfest und bahnverwachsen. Ein alternativer Verkehrsplan, 2012. www.nachhaltig-links.de/index.php/aktuelles/52-aktuelles-mobilitaet/1234-alternativer-verkehrsplan-niedersachsen



linksfraktion.de, 21. Dezember 2012


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