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Ein lautes, fröhliches Lesen gegen das Vergessen

Nachricht von Gregor Gysi, Gesine Lötzsch,

Foto: Uwe Steinert

 

 

Von Gisela Zimmer

Dieser 10. Mai 2015 war ein kalter, windiger Tag. Trotzdem kamen viele Leute - mehrere hundert waren es in zwei Stunden. Die meisten, weil sie wussten, dass auch in an diesem Sonntag wieder die alljährliche „Lesung gegen das Vergessen“  auf dem Bebelplatz in Berlin Mitte stattfindet. Damals, im Mai 1933, hieß dieser Platz noch Opernplatz und die Universität gegenüber war nicht die Humboldt-Universität, sondern die Friedrich-Wilhelm-Universität. Von dort ging auch das schreckliche Fanal zur Bücherverbrennung aus. Die zukünftige geistige Elite Deutschlands, die Studenten der Burschenschaften warfen die Werke ihrer großen Dichter und Denker, Philosophen und Schriftsteller auf den Scheiterhaufen. Zeitgleich fanden in vielen anderen Universitätsstädten solche organisierten und in Film und Fotos festgehaltenen Bücherverbrennungen statt.

So viel Ungeist darf einfach nicht vergessen werden. Darum bleibt das „Lesen gegen das Vergessen“ für DIE LINKE auch eine Tradition. Denn – so Gesine Lötzsch – Traditionen haben immer etwas mit Geschichte, der Auseinandersetzung mit ihr und der Gegenwart zu tun. Gesine Lötzsch hatte nicht nur die prominenten „Vorleser“ eingeladen, sie führte auch durch das zweistündige Lese- und Musikprogramm. Den Anfang machte der Schauspieler Otto Mellies. Am Deutschen Theater Berlin war er über 325 Mal „Nathan, der Weise“. Noch heute spielt er beispielsweise in Andreas-Dresen-Filmen mit oder leiht den Schauspielern Paul Newmann oder Christopher Lee bei Synchronarbeiten seine markante Stimme. Mellies las „Als wär's ein Teil von mir“ von Carl Zuckmayer. Er hatte in in der Autobiographie seine eigene Fluchtgeschichte verarbeitet. Beate Klarsfeld, deutsch-französische Journalistin und Kandidatin der Linken bei der Bundespräsidentenwahl 2012, dachte über „das Verbrennen der Feinde“ nach, darüber was Menschen anderen Menschen antun, und erzählte, warum sie bis heute keine militärischen Aufmärsche und brennende Fackeln ertragen kann.       

Schauspieler Peter Bause hielt es mit Brecht, hielt die Radiorede des Aturo Ui und verließ die Bühne mit den Worten „... der Schoß ist fruchtbar noch“. Bert Brecht brachte auch Sänger und Musikproduzent Tino Eisbrenner mit. Den Frech-Frivolen präsentierte er, dazu ein „Liebeslied zum Verzweifeln“. Das Verbrennen der Bücher war schon furchtbar genug, sagt er, aber die Autoren wurden ja auch verfolgt, über die halbe Welt gejagt – und sie haben trotzdem nicht aufgehört, das Wort zu gebrauchen, poetisch, humanistisch. Das sei „ihre größte Leistung“, für uns Nachgeborene heute noch.

Sehr viel Lacher und Beifall bekam Jessy James Lafleur. Ein junge Frau, eine Poetry Slammerin, immer unterwegs und immer reichlich Buchstabensalat und mindestens sechs Sprachen im Gepäck. Sie spricht einen eigenen Text. Von der „Revolution, die nicht im Fernsehen“ ist, aber „Morgen“ - und dieser „Morgen steht schon vor der Tür“. Gregor Gysi trägt kunstvoll Ringelnatz-Verse vor, Andreas Nachama, Direktor der Stiftung Topograhie des Terrors, erinnert an die Radioansprachen von Thomas Mann. Der Schriftsteller im Exil hatte sie von 1941 bis 1945 gehalten. In der vom 10. Mai 1945 heißt es, dass der „Drache zur Strecke gebracht wurde“, der Nationalsozialismus „verröchelt“ sei. Jens Uwe Bogadtke, Berliner Schauspieler „spielt“ komödiantisch, und das allein  mit seiner mäandernden Stimme zwei Balladen von Heinrich Heine. Spöttisch sind sie, die vom König Langohr, I. und die „Von der Lehre der Zweckmäßigkeit der Dinge“. Reinhold Andert, Buchautor und immer noch der Mann mit der Gitarre, hat Maxim Gorki mit seiner Satire „Das nationale Gesicht“ dabei. Gorki sei zweimal „entsorgt“ worden, sagt der Sänger. Einmal 1933, von den Nazis, da kamen seine Bücher auf den Scheiterhaufen. Das zweite Mal 1990, als die D-Mark kam. Da flogen seine Bücher aus den Buchläden und in die Tonne. Ernst-Georg Schwill ist der letzte Leser an diesem Nachmittag. Man kennt ihn ganz jung aus DEFA-Filmen, später dann auch aus dem Fernseh-Tatort – immer im berühmt frechen Berliner Ton. Darüber hat er eine nicht ganz so ernste Geschichte geschrieben und vorgetragen.

Das Wort - es hatte Gewicht, war schön, poetisch, mal laut, mal leise, nachdenklich und heiter in dieser Lesung gegen das Vergessen. Und es wurde aufgenommen und wunderbar damit gespielt von ganz jungen Leuten. Von Schülerinnen und Schülern der Big Soul Band von der Gustav-Heinemann-Schule in Berlin Marienfelde. Nicht nur mit ihren Instrumenten machten sie Musik, sondern auch mit dem Wort. Das hätte „Macht“, steige „wie Phönix aus der Asche“ und sei „Gedankenträger“. Und – so die fünf jungen Schüler - „Gedanken sind frei“. Ein Wortspiel, eine Art rap-Sprechgesang a capella – und eine wunderbare Einladung zur Lesung gegen das Vergessen im nächsten Jahr.