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Digitalisierung der Arbeitswelt sozial gerecht gestalten

Im Wortlaut von Jessica Tatti,

Neben Klimawandel und demographischer Entwicklung ist „die Digitalisierung“ das Mega-Thema der Transformation von Wirtschaft und Arbeit. Dabei ist die Digitalisierung nichts Neues. Wir befinden uns seit über 50 Jahren im digitalen Wandel. Roboter in der Fertigung, die Allgegenwart von Computern, internet- und cloudbasierte Prozesse und Geschäftsmodelle: Das alles kommt nicht heute plötzlich über uns, sondern ist tägliche Praxis vieler Beschäftigter.

Daher ist es merkwürdig, wenn Wirtschaftsverbände und ihnen nahestehende Politiker*innen nun den Beschäftigten „Ängste“ in Bezug auf die Digitalisierung unterstellen – mit der unterschwelligen Botschaft, dass diese rückwärtsgewandt und fortschrittsfeindlich seien. Wenn wir in die Unternehmen hineinsehen und die Beschäftigten fragen, welche Erfahrungen sie mit der Digitalisierung machen, dann hören wir von ganz konkreten und ernst zu nehmenden Bedrohungen. Das ist etwas völlig anderes als irrationale Ängste: Die Beschäftigten sind stolz auf die Spitzentechnologien in der Produktion, auf die Qualität der Produkte und den eigenen Sachverstand. Sie haben keine Angst vor den neuen Technologien selbst. Sie erleben aber, wie ihre Arbeitsbedingungen verschlechtert, wie ihre Arbeit und ihre Kompetenzen entwertet, wie in der Industrie tausende Entlassungen angekündigt werden. Transformation wird so zur Drohkulisse.

Bisher profitiert nur eine kleine Minderheit der Beschäftigten von der Digitalisierung. Nur rund 5-10 Prozent berichten, dass die Digitalisierung zu mehr Freiheit am Arbeitsplatz führt oder die Arbeit leichter und ungefährlicher macht. Digitale Technologien bringen aber für einen sehr viel größeren Teil der Beschäftigten (rund 50 Prozent) steigende Arbeitsmengen, mehr Belastung, mehr Arbeitsstress und einen Anstieg von Überwachung und Kontrolle am Arbeitsplatz.1 Erschreckend ist, dass ein Mehr an digitalen Kompetenzen die Befürchtung erhöht, den Arbeitsplatz zu verlieren.2 Durch die Digitalisierung wird die Fabrik zwar nicht menschenleer, aber viele Berufe verändern sich rasant. Es wird immer notwendiger, sich unablässig zu qualifizieren. Diese Entwicklungen drängen Erwerbstätige kollektiv in die Defensive. Der Einsatz digitaler Technologien führt momentan zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der Unternehmen.

Betont werden muss, dass die neuen Technologien nicht die Ursache für die beschriebenen Entwicklungen sind. Vielmehr werden sie von Unternehmen gezielt eingesetzt, um vermeintlich immer effizienter und produktiver zu werden. Dass dadurch vielen Beschäftigten Sicherheit und Stolz auf die eigene Arbeit genommen wird, wird für ein paar Marktanteile und eine höhere Rendite in Kauf genommen.

Die Digitalisierung von Wirtschaft und Arbeit muss mit und nicht gegen die Beschäftigten gestaltet werden. Wir können digitale Technologien und Medien auch anders einsetzen: Nicht um Beschäftigte zu verunsichern, um sie zu Lohnverzichten zu zwingen, um sie in digitale „Bullshit-Jobs“3 abzuschieben, sondern um eine sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft zu ermöglichen. 

Der Antrag meiner Fraktion zur Transformation der Arbeit (Drs. 19/16456) enthält erste sinnvolle Vorschläge, wie Politik die anstehenden Umbrüche gerechter mitgestalten kann. Dazu gehören auf individueller Ebene das Recht auf regelmäßige Weiterbildungen, auf kollektiver Ebene die Stärkung von Betriebsräten, etwa wenn digitale Systeme eingeführt, Arbeitsmengen festgelegt werden oder über Weiterbildungsprogramme entschieden wird. Gehen wir es an!


Siehe etwa: DGB-Index Gute Arbeit oder ver.di-Innovationsbarometer 2019.

Gimpel, Henner u.a. (2018): Digitaler Stress in Deutschland. Eine Befragung von Erwerbstätigen zu Belastung und Beanspruchung durch Arbeit mit digitalen Technologien. Düsseldorf: Hans Böckler Stiftung. Verfügbar über https://www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_WP_101_2018.pdf, S. 35-40.

3 Graeber, David (4. Aufl., 2019): Bullshit-Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit. Stuttgart: Klett-Cotta.