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Digitalen Wandel nicht auf Kosten der Beschäftigten bewältigen

Interview der Woche von Jutta Krellmann,


Jutta Krellmann, gewerkschaftspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, im Interview der Woche über die Folgen der Digitalisierung für die Arbeitszeit, Arbeitszeitverkürzung, das "Recht auf Ruhe" sowie die Vorschläge des BDA-Präsidenten, den Acht-Stunden-Tag durch eine Wochenarbeitszeit abzulösen und Sonntagsarbeit zum Normalfall zu machen

Heute mal zehn Stunden arbeiten, morgen dafür früher Feierabend. Um der digitalen Arbeitswelt gerecht zu werden, fordert der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Ingo Kramer, eine Veränderung des Arbeitszeitgesetzes. Der Achtstundentag soll durch eine Wochenarbeitszeit abgelöst, Sonntagsarbeit zum Normalfall werden. Gibt es in dieser Debatte für die Beschäftigten etwas zu gewinnen?

Jutta Krellmann: In der Debatte, die Herr Kramer angestoßen hat, zumindest nicht. Im Gegenteil, die Arbeitgeber versuchen mal wieder, indem sie die Digitalisierung der Arbeitswelt vorschieben, Schutzrechte abzubauen und die Arbeitszeitschraube nach oben zu drehen. Dabei gehört die Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes ebenso zum Deregulierungskanon der Arbeitgeber wie auch die Aufweichung des Datenschutzes oder die Abschaffung des Kündigungsschutzes. Die Beschäftigten und deren Interessenvertretungen haben in so einem Hauruck-Verfahren kaum Chancen, ihre eigenen Vorstellungen überhaupt einzubringen. Das haben beispielweise die vielen Ausnahmen vom Mindestlohn, die in letzter Minute noch Eingang ins Gesetz gefunden haben, gezeigt.

Arbeitgeber begrüßen die Debatte, Gewerkschaften aber sprechen sich entschieden gegen Kramers Vorstoß aus. Wie empfänglich sind die Beschäftigten für einen solchen Wandel der Arbeitszeiten?

Grundsätzlich wünschen sich die Beschäftigten flexibler gestaltete Arbeitszeiten, aber eben unter Beibehaltung oder gar Verbesserung der bestehenden Rahmenbedingungen und natürlich mitbestimmt. Kein Beschäftigter wird es toll finden, wenn letztendlich nur wieder der Chef entscheidet, wann gearbeitet wird und wann nicht. Das genau ist aber die Vorstellung der Arbeitgeber: Sie wollen sich jetzt per Gesetz die Rahmenbedingungen schaffen, ihre Beschäftigten beispielsweise auch am Wochenende arbeiten zu lassen. Die Betroffenen sollen das am besten durch indirekte Steuerung dann "freiwillig" selbst entscheiden. Tarifverträge, durch die mitbestimmt werden könnte, werden so zur Farce. Vergessen wir nicht, dass bei 15 Millionen Beschäftigten jegliche Tarifbindung fehlt. So wird auch schnell klar, warum Gewerkschaften dagegenhalten und eigene Forderungen, wie zum Beispiel das "Recht auf Ruhe" einbringen.

Ständige Überstunden, permanente Erreichbarkeit, Arbeit auf Abruf – das bestimmt heute schon den Arbeitsalltag vieler Menschen. Wie kann verhindert werden, dass Freizeit immer stärker als Arbeitszeit empfunden wird?

Das ist nicht nur ein Gefühl, sondern längst wissenschaftlich erwiesen. Schon heute wird die Höchstarbeitszeit, zehn Stunden täglich oder 48 Stunden in der Woche, umgangen. Sei es durch regelmäßige Überstunden, Home Office oder der Mailcheck am Wochenende – und das alles ohne Freizeit- oder Lohnausgleich. Und genau dort, wo den Beschäftigten schon jetzt der Schuh drückt, brauchen wir politische Antworten. Dazu dürfen wir nicht vergessen, dass die Beschäftigten auch deshalb über Arbeitszeiten reden wollen, weil sich die gesellschaftlichen Herausforderungen in den letzten Jahrzehnten gewandelt haben. Heute stellen die Menschen den Job zu recht nicht mehr über ihre Freizeit oder die Familie. Sie wollen, dass die Arbeit sich ihrem Leben anpasst und nicht mehr andersherum.

Muss es angesichts dessen nicht eher um eine Debatte über Arbeitszeitverkürzung gehen?

Völlig richtig, wir müssen politische Lösungen entlang der Bedürfnisse der Beschäftigten finden. Daher ist es aus unserer Sicht aber auch wichtig, die Frage der Arbeitszeitverkürzung mit Aspekten wie vollem Lohnausgleich, Personalmindestbemessung oder Anti-Stress-Verordnungen zu verknüpfen. Nicht zuletzt bietet diese Debatte über Lebens- und Arbeitszeit auch die Chance, Menschen aus prekärer Beschäftigung zurück in ein neues Normalarbeitsverhältnis zu holen. Und ja, dazu brauchen wir definitiv eine kürzere Vollzeit. Ich denke da zum Beispiel an all die Beschäftigten in unfreiwilliger Teilzeit, die gern mehr arbeiten wollen. Die Frage von Arbeitszeitverkürzung ist also auch eine Frage von gesellschaftlicher Verteilungsgerechtigkeit.

In der öffentlichen Debatte geht es bei der Frage von Digitalisierung oftmals nur um Produktivitätssteigerungen oder zukünftige Wettbewerbsvorteile, die durch Arbeitszeitflexibilisierung gesichert werden sollen. Wie reagiert DIE LINKE darauf?

Ich stelle grundsätzlich infrage, ob man den digitalen Wandel allein durch mehr Deregulierung und wirtschaftlichen Umbau zulasten der Beschäftigten bewältigen kann. Forderungen nach flexibleren Arbeitszeiten gab es von Seiten der Arbeitgeber schon vor dieser Debatte, beispielsweise vom Hotel- und Gaststättenverband. Das ist also keine neue Diskussion, sie bekommt nur mehr Zugkraft. Die Aufregung um den digitalen Wandel macht den Leuten Angst vor der Zukunft: eine perfekte Ausgangslage, damit Arbeitgeber noch mehr Zugeständnisse herausholen können. Dabei reicht ein Blick in die Geschichte, um festzustellen, dass mit technologischem Fortschritt schon immer Produktivitätssteigerungen verbunden waren. Diese waren auch gleichzeitig die Voraussetzungen für Arbeitszeitverkürzungen. Die entscheidende Frage ist doch vielmehr, wer davon profitiert: Alle oder nur die Arbeitgeber? Deswegen halte ich es für erforderlich, an den aktuellen Problemen anzusetzen und zu schauen, ob der digitale Wandel nicht auch die Chance bietet, dass Beschäftigte mitbestimmt klare Grenzen zwischen ihrer Arbeits- und Lebenszeit ziehen können. So sieht unsere Herangehensweise an den digitalen Wandel aus. Wir werden der Aufgeregtheit klare Positionen und konkrete Lösungsvorschläge entgegensetzen, die am Hier und Jetzt der Beschäftigten andocken.

 

Interview: Hannah Sophie Benecke

linksfraktion.de, 4. April 2016