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Dietmar Bartsch © Britta Pedersen/dpaFoto: Britta Pedersen/dpa

Dietmar Bartsch rechnet mit Ampel-Politik ab: »Volksverarsche nervt!«

Im Wortlaut von Dietmar Bartsch, Neue Osnabrücker Zeitung,

Das Interview für die Neue Osnabrücker Zeitung führte Tim Prahle.

Herr Bartsch, wären Sie eigentlich aktuell gern in Regierungsverantwortung?

Es ist unbenommen, dass die Herausforderungen für die Ampel - teilweise unverschuldet - so groß sind wie selten zuvor für eine Regierung. Nicht nur wegen des Krieges: Gigantische Inflation, Kinderarmut, Klimawandel. Aber Herausforderungen sind auch Chancen. Besser eine solche Zeit und die richtigen Entscheidungen als falsche Entscheidungen, die Probleme für die Zukunft festigen. Das gab es in der Vergangenheit zu häufig und die Ampel knüpft daran leider nahtlos an.

Die Entscheidung für eine Kampfpanzer-Lieferung ist mittlerweile gefallen, Ihre Kritik reißt allerdings nicht ab. Wie haben Sie die Debatte verfolgt?

Lange war es in Deutschland klare Mehrheitsposition, dass Kampfpanzer nicht geliefert werden sollen. Das hat sich nach und nach geändert. Beängstigend fand ich, wie Politiker von Union, Grünen und FDP immer mehr und immer schwerere Waffen gefordert haben. Dagegen war die Position des Kanzlers vernünftig. Es ist bedauerlich, dass er seinen Kurs aufgegeben hat. Inzwischen reden wir sogar über Kampfjets, nur fast nicht über Diplomatie. Das ist brandgefährlich.

Wem sind Sie derzeit eigentlich näher bei der Frage, wie man im Ukraine-Krieg agiert. Dem zögerlich abwägenden Bundeskanzler Olaf Scholz oder Sahra Wagenknecht, die mit ihrer “putin-freundlichen” Art bereits Parteiaustritte provoziert haben soll?

Sahra Wagenknecht hat eine sehr klare Haltung: Waffen beenden diesen Krieg nicht, sondern Verhandlungen! Diesen Kurs vermisse ich in der gesamten Bundesregierung und bei Olaf Scholz. Da geht es sehr einseitig um immer mehr Waffen. Im Ergebnis erhöht dieser Kurs die Gefahr, dass wir Kriegspartei werden.

Gibt die sogenannte Panzer-Allianz da keine Sicherheit?

Die meisten Leopard-Panzer in Europa besitzen Griechenland und die Türkei, die liefern beide nicht. Und die allermeisten anderen Staaten Europas ebenfalls nicht. Dann wird so getan, als wären diese wenigen Panzer aus Deutschland kriegsentscheidend, das ist absurd. Kurzum: Hier wird eine innenpolitische Diskussion geführt, bei der jeder Militärexperte nur den Kopf schütteln kann. Wann liefern eigentlich die USA ihre Abrams-Panzer? Dieser tröpfchenweise Informationsfluss ist Volksverarsche. Das nervt.

Fühlen Sie sich als Gegner von Kampfpanzer-Lieferungen ausgeschlossen?

Wer für Panzer ist, ist ein Guter und wer dagegen ist, ist ein Schlechter. Dieser öffentliche Diskurs ist nicht faktenbasiert und innenpolitisch geprägt. Meine Position wird bleiben, dass gerade wir Deutsche verpflichtet sind, mehr diplomatische Lösungen einzufordern. Nicht nur wegen unserer Geschichte. Wer einfach nur dahinsagt, dass die Ukraine gewinnen muss, hat die Komplexität der Situation nicht verstanden.

Die sieht Ihrer Meinung nach wie aus?

Russland hat noch diverse Möglichkeiten, die Eskalationsschraube nach oben zu drehen. So verheerend und barbarisch das russische Agieren ist, für das Wladimir Putin die Verantwortung trägt: Russland wird wegen der Waffenlieferungen nicht in die Knie gehen. Diese Annahme ist zynisch und geht zulasten der Ukrainer, die täglich leiden. Wir sollten alles daran setzen, um einen Waffenstillstand zu erreichen. Wer sagt denn, dass das ukrainische Volk mehr Waffen will? Die meisten Ukrainer wollen einfach nur, dass der Krieg endet und sie in Freiheit leben können.

Die Forderungen gehen ja nun vom durch die Ukrainer gewählten Präsidenten Wolodimir Selenskyj aus. Kriegen diese Forderungen in Deutschland Ihrer Meinung zu viel Aufmerksamkeit?

Die Forderungen durch den Präsidenten sind völlig nachvollziehbar. Wäre doch absurd, wenn Selenskyj weniger Waffen fordern würde. Darüber haben wir auch gar nicht zu befinden. Aber wir haben in Deutschland doch eine andere Interessenlage. Zu der gehört, dass der Krieg sich nicht ausdehnt - so wie es der Kanzler sagt - und der Krieg möglichst schnell zu Ende ist.

Sie fordern ein “Jahr der Diplomatie” und mehr Verhandlungen. Sind die Kriegsparteien denn dafür überhaupt bereit?

Ich bin der festen Überzeugung, dass es auf dem Schlachtfeld keine Lösung gibt. Wenn Willy Brandt mit Leonid Breschnew Ost-Verträge verabschieden konnte und Ronald Reagan mit ihm Abrüstungsverträge unterzeichnete - dann muss das heute auch möglich sein. Ja, es kann scheitern! Aber wir tun immer so, als stünde die ganze Welt gegen Russland. Das ist mitnichten so, wie Olaf Scholz gerade erst in Brasilien erlebt hat. Auch in Afrika beteiligt sich kein einziges Land an den Sanktionen gegen Russland. In Asien nur Japan und Südkorea. Große Staaten wie China, Indien und Südafrika haben eine andere Sicht auf den Krieg als Europa und die USA. Diese Staaten wollen versuchen, den Krieg ohne weitere Waffen zu beenden. Das unterstütze ich.

Diese Staaten tun sich mit der Verurteilung des Angriffskrieges durch Russland aber auch ziemlich schwer…

Sie bleiben aber im Gespräch. Vielleicht haben nur wir und die US-Amerikaner Recht und alle anderen nicht. Oder vielleicht doch nicht? Aber dass ausgerechnet in Deutschland diffamiert wird, wenn man weniger militärische Handlungen fordert, finde ich problematisch. Der Bundestag debattiert lieber über defensive und offensive Waffen. Eine Diskussion von ungedienten Laien. Politikerinnen trugen im Bundestag Leopardenkostüme, einige sprechen bei Kampfpanzern verniedlichend von "Leos". Das sind üble Mordwaffen.

Es scheint sich ein bisschen was aufgestaut zu haben bei Ihnen?

Ich verurteile die innenpolitische Nutzbarmachung des Krieges. Ich werbe nur für einen realistischen Blick. Doch wer sich in Deutschland gegen immer mehr Waffenlieferungen ausspricht, wird umgehend als “Putin-Versteher”, “Fünfte Kolonne Moskaus” bezeichnet und anderen Diffamierungen ausgesetzt. Ich kenne das alles. Statt sich sachlich mit den Argumenten auseinanderzusetzen.

Welche Alternative sehen Sie denn, ohne dass die Ukraine sich selbst überlassen wird?

Ich will die Ukraine nicht sich selbst überlassen, aber werbe für eine europäische Friedensinitiative, die an die Minsker Abkommen anschließt. Niemand auf dieser Welt hat für die Beendigung des Krieges DIE Lösung und niemand weiß, ob Verhandlungen erfolgreich werden. Natürlich kann es keinen "Diktat-Frieden" geben. Aber auch keine Unterwerfung Russlands. Vielleicht scheitert das alles, aber wir brauchen erst einmal einen Waffenstillstand. Der würde den Menschen helfen.

Ist der Plan angesichts der russischen Kriegsführung nicht zu blauäugig?

Wir müssen uns doch entscheiden, wie wir Russland und den Krieg einschätzen. Entweder wir befinden Putin für komplett wahnsinnig. Dann wäre der auch so wahnsinnig und bereit, sein Atom-Arsenal einzusetzen. Oder er handelt rational. Dann müssen wir den Versuch der Verhandlungen wagen. Ich glaube nicht, dass er komplett wahnsinnig ist, wenngleich sein Krieg zweifelsfrei Wahnsinn ist.

Es gab doch Jahre der wirtschaftlichen Beziehungen, die Deutschland in puncto Energieversorgung gerade auf die Füße fallen. Sind all die Vorstellungen, mit Putin noch reden zu können, nicht längst über Bord geworfen?

Ich war auch davon überzeugt, dass wirtschaftliche Verflechtungen dazu führen, dass es nicht zu Kriegen kommt. Da habe ich mich geirrt. Trotzdem müssen wir in Europa mittelfristig über eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur mit Russland reden. Es ist alternativlos. Oder will man das Land zerschlagen und besetzen? Russland wird es weiter geben.

Deutschland wurde sehr schnell die Hand gereicht nach dem Zweiten Weltkrieg. Das sollte bei Russland ebenso passieren und gerade wir Deutschen sollten da vorn dabei sein.

Soweit sind wir allerdings noch nicht …

Es gibt noch einen Fakt aus Russland, den wir mehr zur Kenntnis nehmen müssen. Es sind dort nicht die Friedensbemühten, die derzeit Druck auf die russische Regierung machen. Der Druck kommt von jenen, die fragen, warum Kiew nicht längst in Schutt und Asche gelegt wurde.

Kann denn zum jetzigen Stand ein Waffenstillstand erreicht werden, bei dem die Ukraine nicht unterliegt?

Mit mehr Waffenlieferungen wird ein Waffenstillstand nicht erreicht. Das ginge nur, wenn man militärisch obsiegt. Dass die Ukraine im Kreml einmarschiert, ist absurd. Niemand sagt, dass wir die Ukraine nicht humanitär und finanziell unterstützen sollten oder die Ukraine kapitulieren sollte. Aber ich glaube keine Sekunde daran, dass wir einen Waffenstillstand erst erreichen können, wenn alle russischen Soldaten vom ukrainischen Territorium, einschließlich der Krim, verschwunden sind. Wenn das aber das unverrückbare Ziel ist, wird dieser Krieg als Abnutzungskrieg noch Jahre dauern. Das kann niemand wollen.

Ist die Aussage, dass man der Ukraine durch Waffenlieferungen einen besseren Platz am Verhandlungstisch gewährt, ein Irrglaube?

Ich meine, dass man diesen kausalen Zusammenhang kaum aufmachen kann. Es braucht einen gleichwertigen Platz für die Ukraine am Verhandlungstisch. Aber den erreicht die Ukraine nicht durch wenige westliche Panzer, sondern durch diplomatischen Druck auf Putin. Auch historisch halte ich deutsche Kampfpanzer in einem Krieg mit Russland für ein Problem. In Deutschland haben wir aktuell eine ungesunde Fixierung auf das Militärische.

Befürchten Sie eine neue Militarisierung in Deutschland?

Diese Militarisierung gibt es ganz praktisch. Der Krieg findet im Gegensatz zu anderen Kriegen täglich in der Tagesschau eine Widerspiegelung, damit interessiert er. Über Jahre wurde der Etat der Bundeswehr nie ausgeschöpft, aber jetzt machen wir ein Sondervermögen, dessen Höhe völlig willkürlich ist. Wir wissen nicht einmal, was wir mit der Bundeswehr wollen. Landesverteidigung wie im Grundgesetz? Oder doch etwas anderes? Der Ukraine-Krieg hat vielen vor Augen geführt, dass der Frieden in Europa nicht so sicher war, wie vielleicht gedacht. Deswegen war die Bereitschaft für ein Sondervermögen über Nacht riesig. Eine Kindergrundsicherung wird dafür aber auf den St. Nimmerleins-Tag verschoben. Das ist doch eine Schieflage.

Wie stellen Sie sich denn die Zukunft der Bundeswehr vor?

Ich bin im Gegenzug zu anderen Politikern der Linkspartei nicht für die Abschaffung der Bundeswehr, sondern dafür, dass sie sich um ihren grundgesetzlichen Auftrag kümmert: die Landes- und Bündnisverteidigung. Aber erst die Definition, dann die Frage, was man braucht und dann die Bereitstellung der Finanzen. Nicht: Hier ist ein gewaltiges Sondervermögen und jetzt schauen wir mal, wie wir die Milliarden bei der Rüstungsindustrie versenken.

Trauen Sie dem aktuellen Verteidigungsminister denn zu, diesen Umbruch anzustoßen?

Herrn Pistorius eilt ein guter Ruf voraus, aber an der Bundeswehr sind schon viele andere gescheitert. Ich will ihn an seinen Taten messen und nicht an den Ankündigungen. Das braucht Zeit.

Im Gegensatz zu den Regierungsmitgliedern und vielen Abgeordneten haben Sie wie auch Pistorius Wehrdienst geleistet. Ist das wirklich ein Vorteil?

Nein. Ich bin nur über einige Kriegsdienstverweigerer erstaunt, die direkt von der Friedensdemo in den Panzer gesprungen sind. Bei dem einen oder anderen gehen mir die Sprünge zu schnell. Entweder es war vorher Heuchelei oder jetzt.

Müssen wir dann nicht doch irgendwann über die Wehrpflicht wieder reden?

Nein, die Debatte müssen wir nicht führen. Dafür gibt es keine parlamentarische Chance. Auch bei mir persönlich nicht.

Die Friedensbewegung und die Linke wirken zwischen Friedensbestrebungen und Putin-Nähe orientierungslos. Was wollen und können Sie dem entgegensetzen?

Die Friedensbewegung hat vorher schon leider eher eine Randrolle gespielt. Ich würde mir wünschen, dass sie wieder stärker wird, aber im Moment sehe ich keine machtvolle Friedensbewegung. Wenn sie wieder auflebt, muss sie ihre Rolle zum Teil neu definieren.

Wieso sind die Zustimmungen zu Panzerlieferungen im Osten so viel geringer als im Westen?

Das liegt sicher an der Sozialisation, eine verbreitete antisowjetische Haltung gab es im Osten nie, im Westen schon, das spiegelt sich hier auch wider. Ich würde mir aber wünschen und tue alles, dass die Kritik an Waffenlieferungen in eine linke Bahn geleitet wird.

Nach jüngsten Umfragen sprechen sich auch 31 Prozent der Linken-Wähler für Kampfpanzer-Lieferungen aus. Ist die Zahl überraschend hoch?

Ich denke, dass es bei jedem klar denkenden Menschen eine gewisse Zerrissenheit gibt. Mir sind Leute suspekt, die ohne Nachdenken und Abwägen immer wissen, was richtig ist. Ich glaube, dass es richtig und wichtig ist, dass wir als Linkspartei Nein sagen zu Kampfpanzern und Kampfjet-Debatten. Wir müssen bei dieser Frage eine klare Linie beibehalten.

Wie haben Sie das vergangene Jahr voller Krieg in Europa erlebt?

Mein Entsetzen ist immer noch gewaltig. Es ist furchtbar, ich kenne Ukrainer und Russen, die stehen sich jetzt gegenüber und das Gegeneinander wird über Jahrzehnte bleiben, das lässt sich nicht schnell korrigieren. Das Leid der Leute bedrückt mich.

Dass der Krieg diese Formen annimmt und derart das innenpolitische Geschehen prägt, habe ich kaum für möglich gehalten. Jedes Problem wird mit dem Ukraine-Krieg begründet. Positionen sind derart schnell abgeräumt worden. Atomkraftwerke, Kohlekraftwerke werden verlängert, wir diskutieren über Fracking in Deutschland und, und, und. Das ist alles Wahnsinn.

Neue Osnabrücker Zeitung,