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»Diese Ungleichheit ist ein Unding!«

Interview der Woche von Klaus Ernst, Katja Kipping,

 

Die soziale Ungleichheit nimmt zu, in Deutschland wie in Europa. Gleichzeitig stehen beide vor der Herausforderung, Menschen, die vor den Folgen globaler Ungleichheit flüchten, menschenwürdig aufzunehmen, unterzubringen und ihnen eine Perspektive zu geben. Das verursacht gleichfalls soziale Spannungen in der Gesellschaft. Katja Kipping, sozialpolitische Sprecherin der Fraktion, und Klaus Ernst, Leiter des Arbeitskreises Wirtschaft, Arbeit und Finanzen, erörtern in Interview der Woche die akuten Herausforderungen und deren Lösungsmöglichkeiten.

 

In der Sommerpause hat die Flüchtlingskrise ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Welchen Blick haben Sie auf die jüngsten Ereignisse und wie, glauben Sie, wird es in den nächsten Monaten weitergehen?

Katja Kipping: Wir haben es ja nicht mit einer Naturkatastrophe zu tun, sondern mit dem vorher absehbaren Scheitern der bisherigen europäischen Migrationspolitik. Als Höhepunkt der Krise erscheint die derzeitige Situation nur aus deutscher Perspektive. Auch in den vergangenen Jahren waren Millionen Menschen auf der Flucht. Diese wurden mit Billigung und Unterstützung der EU in Lagern im Maghreb interniert, ertranken im Mittelmeer oder strandeten zu zehntausenden in Italien oder Griechenland.

Bürgerkriege in Nordafrika und die Krise in Südeuropa konfrontieren nun auch uns mit der Realität von Flucht. In den nächsten Wochen muss es vor allem darum gehen, eine menschenwürdige Unterbringung für alle Ankommenden sicherzustellen. Danach müssen wir so schnell wie möglich aus dem Notfallmodus herauskommen und dauerhafte Strukturen schaffen. Die vielen ehrenamtlich Helfenden dürfen nicht als Lückenbüßer für das Politikversagen dienen.

„Wir schaffen das“, hat Kanzlerin Merkel Ende August erklärt. Können Sie schon einschätzen, wie groß der politische Einschnitt durch die ankommenden Flüchtlinge in Deutschland ist?

Klaus Ernst: Die Wahrheit ist, dass wir jetzt konkret mit den Folgen der dramatischen Fehler der westliche Außen- und Sicherheitspolitik konfrontiert werden. Die Menschen flüchten vor Kriegen aus Regionen, die durch die Militäreinsätze der USA destabilisiert wurden. Auch für die Bundesrepublik ist es eine Herausforderung, die große Zahl an Flüchtling zu integrieren. Aber für ein so reiches Land wie unseres ist das leistbar. Wir müssen erkennen, dass auf mittlere Sicht, nur durch die Verhinderung von Kriegen und die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen, große Wanderungsbewegungen verhindert werden können. Jetzt gilt es, Asylverfahren schnell abzuwickeln und Arbeitsmarktbeschränkungen und Sprachbarrieren zu überwinden – aber auch Vorsorge zu treffen, dass Flüchtlinge nicht als billige Arbeitskräfte und Lohndrücker in der Bundesrepublik missbraucht werden.

Das normale Leben in Deutschland mit den Sorgen der Menschen geht weiter. Finanzminister Schäuble sagte in der Haushaltsdebatte vergangene Woche, die Flüchtlingskrise habe „absolute Priorität“. Steht nun zu befürchten, dass andere Probleme durch die Flüchtlingskrise überdeckt oder gar vergessen werden?

Katja Kipping: Im Gegenteil. Die Diskussion über die Integration der Ankommenden macht ja gerade die Mängel unserer sozialen Infrastruktur sichtbar. Die Probleme waren schon vor den Flüchtlingen da. Die Probleme bei der Unterbringung zeigen die Versäumnisse beim sozialen Wohnungsbau der letzten Jahrzehnte. Die Überforderung der Verwaltungen ist Ergebnis des Stellenabbaus im öffentlichen Dienst. Die Überlastung von Schulen zeigt die mangelnde Investition in unser Bildungssystem. Wenn wir über die Lebenssituation von Flüchtlingen reden, reden wir gleichzeitig auch über die drängendsten Probleme in diesem Land.

Schäuble hat einen bemerkenswerten Satz gesagt: „Wir dürfen Flüchtlinge nicht nur unter Kostengesichtspunkten betrachten.“ Bisher gab es für die Bundesregierung Menschenwürde immer nur nach Kassenlage. Das gilt für die Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze als auch für Sozialleistungen von Flüchtlingen. Mit seinem Satz hat Schäuble einen Anspruch formuliert, auf dem sich die Bundesregierung fortan in allen Politikbereichen messen lassen muss.

Klaus Ernst: In der Haushaltsdebatte wurde deutlich, dass die Bundesregierung auch die notwendige schnelle Registrierung von Flüchtlingen dazu nutzen will, Personal bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, die den Mindestlohn kontrolliert, nicht im notwendigen Maße aus zuweiten. Die Bundesrepublik Deutschland hat genug Geld, um beides zu tun. Es verwundert nicht, dass es das Finanzministerium ist, das diesen Vorschlag gebracht hat. Bedauerlich ist, dass die SPD das mitträgt.

DIE LINKE will Befristungen und Leiharbeit stoppen. Das ist auch Thema der Kampagne „Das muss drin sein“, die gegenwärtig läuft. Warum ist das aus sozialpolitischer Sicht wichtig und welche Bevölkerungsgruppen sind davon besonders betroffen?

Katja Kipping: Unsicheren Arbeitsverhältnisse disziplinieren nicht nur die direkt davon betroffenen, sondern auch diejenigen, die noch in sicheren Jobs sind. Schließlich wird z.B. der Beschäftigten in der Kernbelegschaft durch Leiharbeitende ihre Ersetzbarkeit vor Augen geführt.

Gerade von Befristungen sind junge Menschen besonders betroffen. So ist bei den Neueinstellungen fast jeder zweite Arbeitsvertrag befristet. Wir wollen eine planbare Zukunft ohne Befristungen und Leiharbeit. Befristungen müssen zurückgedrängt werden, sachgrundlose und Ketten-Befristungen müssen verboten werden.

Welche Rolle spielt der Staat als Arbeitgeber, wenn es um Befristungen geht?

Klaus Ernst: Man sollte eigentlich annehmen, dass Befristungen und Leiharbeit insbesondere ein Problem der freien Wirtschaft sind. Tatsache ist: In vielen Ministerien gab es im Laufe der letzten 20 Jahren einen dramatischen Zuwachs an befristeten Arbeitsverträgen, der noch über dem Durchschnitt der Gesamtwirtschaft liegt. Im Gesundheitsministerium, im Familienministerium und im Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft lagen die Anteile der befristeten Arbeitsneuverträge im Jahr 2013 bei über 90 Prozent. Das ist ein Skandal! Ebenso skandalös ist die in vielen Bundesländern übliche Praxis der Kettenbefristung von Lehrkräften. Unsere Kleine Anfrage an die Bundesregierung vom Juli 2015 hat gezeigt: Tausende Lehrerinnen und Lehrer werden über die Sommerferien in die Arbeitslosigkeit entlassen. Viele nicht verbeamtete Lehrerinnen und Lehrer hangeln sich über Jahre hinweg von einem befristeten Vertrag zu anderen. Es ist unerträglich, dass einige Bundesländer versuchen, ihre Haushalte auf Kosten von nicht-verbeamteten Lehrkräften zu entlasten. Eine unhaltbare Situation! Das unbefristete Arbeitsverhältnis muss wieder zur Regel werden und der Staat muss dabei als gutes Beispiel vorangehen.

Der parlamentarische Betrieb hat nach der Sommerpause Fahrt aufgenommen. Sie setzen sich seit langem für ein Ende der Sanktionen bei Hartz IV ein. Der Streit tobt sowohl politisch als auch juristisch. Auf welchem Feld wird er am Ende entschieden?

Katja Kipping: Sicher – eine Klarstellung durch das Bundesverfassungsgericht wäre hilfreich.  Aber grundsätzlich muss eine solche Frage politisch entschieden werden, insbesondere durch die Menschen im Land, indem sie Druck auf die herrschende Politik ausüben. Als LINKE fordern wir  klar die Abschaffung aller Sanktionen und Leistungseinschränkungen bei Hartz IV und den anderen Grundsicherungen. Die Sicherung der Existenz und Teilhabe ist ein Grundrecht, das darf man nicht kürzen.

Am 10. Oktober geht es in Berlin bei einer großen Demonstration gegen das Freihandelsabkommen TTIP, das auch DIE LINKE entschieden ablehnt. Warum und wie ist eigentlich der Stand der Dinge bei den Verhandlungen?

Klaus Ernst: Das Abkommen würde in weite Teile unseres Lebens eingreifen. Unsere Regeln im Umweltschutz, Verbraucherschutz, bei der Gestaltung der Arbeit und selbst im Kulturbereich sind in Gefahr. Nach wie vor finden die Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und sogar der Abgeordneten statt. Man will demokratisch zustande gekommene Regelungen durch Bestimmungen ersetzen, die die Großunternehmen diesseits und jenseits des Atlantiks in den Kram passen. Verlierer des Abkommens werden die Beschäftigten, die kleinen und mittleren Unternehmen und unsere Umwelt sein. Da machen wir nicht mit, sondern rufen zum Widerstand auf!

Bei den Verhandlungen stockt es bisher in vielen Bereichen – etwa bei der öffentlichen Beschaffung. Dennoch wird ein Abschluss unter der Amtszeit von Obama angestrebt – also bis Ende 2016. Wir müssen daher sehr wachsam bleiben, welche unserer Errungenschaften im Zuge einer schnellen Einigung feilgeboten werden sollen.

Sprechen wir noch einmal über die Herausforderungen, durch die ankommenden Flüchtlinge mit sich bringt. Flüchtlinge müssen ja nicht nur in Erstaufnahmeplätzen untergebracht werden, sondern danach auch in Wohnungen. Welche Folgen hat das für die Wohnungspolitik?

Katja Kipping: Es rächt sich, dass die Bundesregierung sei Jahren im sozialen Wohnungsbau kürzt. Die Linke, konkret Caren Lay, hat auf diese Fehlentwicklung schon seit Jahren aufmerksam gemacht. Im Januar haben wir erneut gefordert, die Mittel für die soziale Wohnraumförderung auf 700 Millionen Euro jährlich anzuheben und jedes Jahr mindestens 150.000 neue Sozialwohnungen zu bauen. Das hilft sowohl bei der dezentralen Unterbringung von Geflüchteten, als auch bei der Wohnungssuche von Menschen mit niedrigem Einkommen.

Wachsende Ungleichheit in Deutschland und Europa wird immer wieder festgestellt – nicht nur von der LINKEN, sondern zum Beispiel auch, wie in der vergangenen Woche, von der Entwicklungsorganisation Oxfam. Welche Schritte braucht es denn für den sozialen Ausgleich?

Klaus Ernst: Ja, diese extreme Ungleichheit ist ein Unding. Inzwischen besitzt das reichste Tausendstel 17,3 Prozent des gesamten Nettovermögens in Deutschland. Die ärmere Hälfte muss sich 2,5 Prozent teilen. Warum? Weil die Regierungen seit Jahren eine Politik für die Bestverdienenden und Vermögenden machen. Arbeit wird höher besteuert als Kapitalerträge. Gleichzeitig wurden Unternehmenssteuern und Spitzensteuersatz gesenkt und die Vermögenssteuer abgeschafft. Dass muss dringend geändert werden: Weg mit der Abgeltungssteuer für Kapitalerträge; her mit der Vermögenssteuer! Außerdem müssen die Lohnbremsen aus den Gesetzen und legalen Steuervermeidungsstrategien muss der Riegel vorgeschoben werden.

 

linksfraktion.de, 14. September 2015