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»Die Völker Europas dürsten nach Gerechtigkeit, Würde und Solidarität«

Kolumne,

© European Union

 

 

Francis Wurtz, von 1979 bis 2009 ununterbrochen Europaabgeordneter für die Französische Kommunistische Partei, von 1999 bis 2009 Vorsitzender der Linksfraktion im Europäischen Parlament, erläutert, warum der Fiskalpakt für alle in Europa gefährlich ist


Die Wahl von François Hollande und die Chance auf einen Wahlsieg der Linken bei der Parlamentswahlen am 10. und 17. Juni haben in Frankreich eine Debatte über den Fiskalpakt, den wir Merkozy-Vertrag nennen, ausgelöst. Der neue französische Präsident hat in seiner Wahlkampagne immer wieder betont, dass er die Neuverhandlung dieses Vertrages fordern werde, der von den Menschen dieses Landes, die linke Positionen unterstützen, sehr schlecht aufgenommen wurde. Zwar hat der sozialistische Kandidat Mezza voce ergänzt, dass er den Vertrag selbst nicht in Frage stellen, sondern fordern werde, dass dieser durch einen Wachstumspakt ergänzt wird - was absolut nicht dasselbe ist. Die Grundidee, die in den Köpfen fortlebt, ist jedoch, dass François Hollande mit Angela Merkel das Ruder herumreißen wird, um Europa neu auszurichten. Man muss die Debatten im Land zu diesem Thema in den kommenden Wochen und Monaten abwarten. 

Was denken nun die Front de Gauche und die Kommunistische Partei Frankreichs über diesen Pakt? Dass er eine Gefahr für alle in der Europäischen Union ist - einschließlich Deutschland. Woran leiden die meisten Mitgliedstaaten wirklich? An Massenarbeitslosigkeit: 11 Prozent in der Eurozone, 25 Prozent in Spanien und Griechenland, 15 Prozent in Portugal und 8 Prozent selbst in Dänemark. An Stagnation angesichts der ökonomischen Rezession - man betrachte das Italien des Professor Monti. An der Ausbreitung der Armut: 115 Millionen Menschen - das ist die offizielle Zahl für 2011. An Verzweiflung der Jugend. Ist Deutschland eine Ausnahme? Für wie lange noch? Deutschland, das von seinen Exportrekorden lebt, ist direkt von der Gesundheit seiner Kunden abhängig, von denen die Hälfte aus Europa kommt. Öffnen wir die Augen: Die gesamte Eurozone ist in Gefahr. "Europa steht am Rande des Abgrunds", warnt Jacques Delors.

In dieser für die EU historisch einzigartigen Situation die Reduzierung der staatlichen Defizite bis auf 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahre 2017, den Abbau der Schulden um mindestens 20 Prozent der extremen Schulden jährlich und Strukturreformen zu fordern, die immer die Rechte der Arbeitnehmer beschneiden - und all das unter Androhung quasi automatischer heftiger Strafen - das ist eine Verrücktheit oder Verblendung.

Das Schlimmste ist, dass sich sogar führende Vertreter der Konservativen darüber im Klaren sind, dass diese Logik uns direkt an die Wand fährt, sie sich aber angesichts ihrer Herren - Angela Merkel, Wolfgang Schäuble, Mario Draghi - nicht wagen, gegen die geltenden Dogmen zu opponieren.

Es ist an der europäischen Linken, diese Herausforderung anzunehmen. Sie sollte damit beginnen, den Fiskalpakt abzulehnen. Dabei kann sie auf die Unterstützung der Gewerkschaften bauen. Erstmals lehnt der Europäische Gewerkschaftsbund einen europäischen Vertrag ab. Vor allem auf diesem Weg kann die europäische Linke das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen, die in vielen Ländern ungerechte und sinnlose Opfer erbringen müssen und am Ende sind. Ich wage zu sagen, dass besonders große Erwartungen an die deutsche Linke gestellt werden, weil die gegenwärtige Regierung in Berlin durch ihre Unnachgiebigkeit, ihr dominantes Auftreten, ihr Unverständnis für Südeuropa sich in gefährlichen Ressentiments widerspiegelt. Berlins Haltung zu Griechenland ist ein absoluter Skandal. Die Völker Europas dürsten nach Gerechtigkeit, Würde und Solidarität. Man muss ihnen ein klares Signal senden. Unverzüglich!

In meinen Augen gehen die Erwartungen nach Veränderungen in folgende drei Richtungen:

Die allererste Priorität für uns Linke ist nicht die erzwungene Entschuldung. Es ist die soziale und ökologische Entwicklung. Jede und jeder müssen spüren, dass es eine Richtungsänderung gibt und dass diese Veränderungen alle betreffen und niemand auf der Strecke bleibt.

Außerdem wollen wir ein Europa, dass sich die Mittel in die Hand gibt, um sich von der Übermacht der Finanzmärkte zu befreien. Sie sind es, die heute mittels der Zinsen und der Erpressungen der Ratingagenturen über Regen und Sonnenschein bestimmen. Das erfordert, ein Tabu zu brechen - den Auftrag der Europäischen Zentralbank in Frage zu stellen. Ihre monetäre Gründungsmacht darf nicht mehr nur den Privatbanken allein dienen, sie muss auch mit niedrigen Zinsen den Staaten ermöglichen, die öffentlichen Programme für Investitionen in die soziale und ökologische Entwicklung zu finanzieren. Beispielsweise dadurch, dass bei der EZB eine öffentliche europäische Bank gegründet wird, die ausschließlich diese Art von Projekten zu sehr niedrigen Zinsen finanziert. Das ist der Vorschlag der Partei der Europäischen Linken, der ab kommenden September Gegenstand einer Europäischen Bürgerinitiative sein wird, die dafür in der gesamten EU Unterschriften sammelt.

Und schließlich muss die Linke sich entschieden für die Wiederherstellung der Demokratie und für die Förderung der politischen Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger einsetzen. Mit der Konzentration der Macht auf die Gipfeltreffen der Staats-und Regierungschefs muss Schluss sein. Eine Beschlussfassung an Orten, die für Bürger und gewählte Abgeordnete nicht zugänglich sind, muss beendet werden. Es muss Schluss damit sein, demokratische Prozesse zu vermeiden. Tragen wir zu neuem Denken, Dynamik und Hoffnung bei! Noch ist es möglich, aber dringlich!