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»Die Kanzlerin muss jetzt machen, nicht mahnen«

Interview der Woche von Sevim Dagdelen,

 

"Wer weiter auf Verhandlungen setzt und vor Erdogan kuscht, spielt der Regierungspartei AKP in die Hände, die auf eine islamistische Diktatur hinarbeitet", sagt Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag. Im Interview der Woche erklärt sie den Konflikt in der Türkei, die Ziele Erdogans und den Einfluss der türkischen Regierungspartei AKP in Deutschland. Erdogan habe auch in Deutschland seine Anhänger voll mobilisiert. "Die Bundesregierung hat leider diese Situation durch ihr Hofieren von AKP-nahen Vereinen in Deutschland mit heraufbeschworen", so Dagdelen. 

EU-Visafreiheit für türkische Bürgerinnen und Bürger gegen Flüchtlingsdeal – so lautet, verkürzt gesagt, das EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen. In der vergangenen Woche drohte Erdogan damit, den Flüchtlingsdeal platzen zu lassen, sollte die Visaliberalisierung nicht umgesetzt werden. Welche Folgen hätte das für die Flüchtlinge, aber auch für Merkels Flüchtlingspolitik?

Sevim Dagdelen: Merkels Flüchtlingsabwehr mit Hilfe des Türstehers Erdogan ist bereits jetzt gescheitert. Weder eine menschenrechtliche Flüchtlingspolitik noch eine soziale Integrationspolitik ist mit der Bundeskanzlerin machbar. Ihr schlichtes "Wir schaffen das" ist angesichts der Situation der reine Hohn. Für die Flüchtlinge wäre dies dann ein wirklicher Fortschritt, wenn die EU legale Einreisewege schafft und damit verhindert, dass noch mehr Menschen im Mittelmeer sterben.

Sie kritisieren die Bundeskanzlerin scharf. Wie würden Sie an ihrer Stelle handeln?

Die Kanzlerin muss jetzt machen, nicht mahnen. Erdogan verwandelt die Türkei in eine Diktatur mit Gleichschaltung, Folter und Massenverhaftungen. Man muss hier jetzt endlich Tacheles reden. Die EU-Beitrittsverhandlungen sind abzubrechen. Visafreiheit, wo als Bedingung eine unabhängige Justiz vorgesehen ist, kann es jetzt natürlich nicht geben. Wer weiter auf Verhandlungen setzt und vor Erdogan kuscht, spielt der Regierungspartei AKP in die Hände, die auf eine islamistische Diktatur hinarbeitet. Gegen Erdogan müssen jetzt Sanktionen verhängt werden, dazu gehören ein Einreiseverbot wie auch das Einfrieren seiner Konten.

Aber was geschieht, wenn die Türkei die Grenzen für die Flüchtlinge wieder öffnet?

Das hängt ganz von der EU ab. Wenn weiterhin die Flüchtlinge in der Türkei, aber auch im Libanon und in Jordanien im Stich gelassen werden, man weiter islamistische Terrormilizen in der Region unterstützt und Erdogans Türkei nicht dazu anhält, den Krieg gegen die Kurden zu stoppen oder wenigstens die Grenze nach Syrien zum IS zu schließen, werden mehr Menschen versuchen, sich in Europa in Sicherheit zu bringen.

Welche Rolle spielt die Türkei, wenn Sie an eine friedliche Lösung für Syrien denken oder an den Kampf gegen den Islamischen Staat?

Das Problem ist, dass die Türkei weiterhin den Nachschub für den IS über die Grenze passieren lässt. Islamistische Terrormilizen, wie der jetzt umbenannte Al-Kaida-Ableger, die Al-Nusra-Front und Ahrar al Sham werden von Erdogan weiter massiv mit Waffen beliefert. Sie sind für die Ermordung hunderter Zivilisten verantwortlich und kämpfen für eine islamistische Diktatur in Syrien. Erdogan setzt hier weiter auf Krieg, auch gegen die Kurden in Syrien. Er ist damit nicht nur eine Gefahr für die Sicherheit in der Region, sondern auch in Europa.

Sprechen wir über den gescheiterten Putsch in der Türkei und seine Folgen. Das Regime geht hart vor. Richter werden entlassen, Zehntausende wurde Beamte gefeuert, Akademiker dürfen nicht ausreisen, Haftbefehle gegen Journalisten, Zeitungen, Fernsehstationen, Radiosender geschlossen – alle, denen eine Nähe zur Gülen-Bewegung nachgesagt wird. AKP-Politiker wie Mustafa Yeneroğlu verteidigen die Maßnahmen, die Türkei brauche nun "Normalität". "Jeder andere Staat in Europa würde genauso handeln", sagt er. Welches Ziel verfolgt Erdogan?

Gerade, dass man nur wenige Stunden nach dem Putschversuch mit der Verhaftung von über 60000 Menschen aus dem Staatsapparat begonnen hat, spricht dafür, dass hier lange vorbereitete Listen, die für einen eigenen Staatsputsch angelegt wurden, regelrecht abgearbeitet werden. Erdogan will die Diktatur. Jeder der nicht 150 Prozent für ihn ist, gilt ihm als Feind und diese Feinde will er jetzt ein für allemal beseitigen. Bildungseinrichtungen, Gewerkschaften und Medien werden in diesem Sinne gleichgeschaltet. Ich habe Freunde in der Türkei, die weder etwas mit den Putschisten noch mit der Gülen-Bewegung zu tun haben, die jetzt von der Polizei abgeholt worden sind.

Können Sie uns den Konflikt zwischen dem Prediger Fetullah Gülen und Präsident Erdogan erklären?

Ja, es ist der Konflikt zwischen zwei feindlichen Brüdern. Bis 2013 waren Erdogan und Gülen ja ein Herz und eine Seele. Beide repräsentieren aber auch unterschiedliche islamistische Strömungen. Erdogan steht für die Muslimbrüder, Gülen für eine Geheimsekte, die sich auf den Sufismus beruft, eine asketisch-mystische Richtung im Islam. Beides sind Exponenten der politischen radikalen Rechten. Nach dem Putsch von Al-Sisi in Ägypten gegen eine immer autoritärere Herrschaft der Muslimbrüder, bei dem im Vorfeld auch Massendemonstrationen eine Rolle spielten, bei denen stark die 10 Millionen Sufi-Anhänger mobilisiert wurden, gab es offenbar bei Erdogan ein wachsendes Misstrauen, dass es ein ähnliches Szenario in der Türkei geben könnte. Gülen wolle sich zudem weiterhin an den Westen anlehnen. Für Erdogan war die Zeit gekommen, die Westbindung etwas zu lockern, um seinem eigentlichen Ziel, einen islamistischen Staat zu schaffen, näher zu kommen.

Bei einer Großkundgebung am Sonntag in Istanbul hat Präsident Erdogan, Deutschland scharf kritisiert. Wie bewerten Sie die Rede Erdogans?

Das hat System. Ganz nach dem Motto "Angriff ist die beste Verteidigung" versucht er damit seine Kritiker aus Europa einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen. Nach einem ähnlichen Muster lässt er der österreichischen Regierung Rassismus vorwerfen, weil diese angesichts der innenpolitischen Situation in der Türkei die EU-Beitrittsverhandlungen abbrechen will. Erdogans Sprache ist die der Mafia und der Erpressung. Leider hat er dafür bei der Bundesregierung bisher offene Ohren gefunden. Wie weit er die Sache treibt, wird deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, dass jetzt einer seiner engsten Berater den sozialdemokratischen österreichischen Kanzler im Jargon der Al-Kaida als "Ungläubigen" beschimpfen lässt.

Der innertürkische Konflikt strahlt inzwischen bis nach Deutschland aus. Es gab eine Erdogan-Demo in Köln vor gut einer Woche, aber auch Gegendemonstrationen. Wie gespalten ist die türkische Gemeinde in Deutschland?

Bereits bei den Wahlen für die türkische Nationalversammlung konnte Erdogan in Deutschland bis zu 60 Prozent der Stimmen der Türkinnen und Türken in Deutschland für sich verbuchen. Jetzt unterstützen ihn auch noch die faschistischen Grauen Wölfe. Kritiker Erdogans dagegen werden bedroht, beschimpft und beleidigt. Das Ganze hat System. Ich habe bisher nicht den Eindruck, als würde dies von der Bundesregierung als Problem wahrgenommen. Wir haben es mit einer rechtspopulistischen islamistischen Bewegung zu tun, die von Faschisten mit unterstützt wird und über starke Propagandamittel verfügt.

Wie weit reicht der Einfluss des Erdogan-Regimes nach Deutschland und muss darauf innenpolitisch reagiert werden?

Über die Moscheevereine und ihrem Dachverband der DITIB, die von Erdogan ganz stark beeinflusst werden über die Entsendung von staatlichen Imamen aus der Türkei nach Deutschland und den direkten Einfluss von türkischen Staatsbeamten auf die Freitagspredigten in Deutschland, hat Erdogan hier seine Anhänger voll mobilisiert. Mit Religionsfreiheit hat das nichts zu tun. Da er zudem fast alle türkischsprachigen Medien kontrolliert, sind die Menschen mit Migrationshintergrund Türkei auch hier eine Dauerpropaganda ausgesetzt. Gegen Säkulare, Kurden und Aleviten wird gehetzt, Gülen-Anhänger direkt bedroht. Die Bundesregierung hat leider diese Situation durch ihr Hofieren von AKP-nahen Vereinen in Deutschland mit heraufbeschworen. Hier muss dringend umgesteuert werden, will man Erdogans Einfluss in Deutschland nicht weiter erhöhen.

linksfraktion.de, 9. August 2016