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Die gekaufte Republik: Deutschlands Problem ist nicht die Raffgier - sondern das System

Im Wortlaut von Sahra Wagenknecht, Focus,

Es hört einfach nicht auf. Immer neue Namen von Politikern, denen der persönliche Kontostand wichtiger war als der Wählerauftrag und von denen viele ausgerechnet die Corona-Notlage für dubiose Deals zum eigenen Vorteil ausgenutzt haben, sickern in die Öffentlichkeit. Das eigentliche Problem ist nicht die Raffgier mancher Politiker - sondern liegt viel tiefer.

Das Ergebnis der jüngsten Enthüllungen ist absehbar: das Ansehen von Politikern, das schon seit längerem kein gutes ist, nimmt weiteren Schaden, und das der Demokratie gleich mit. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, in einem Land zu leben, in dem politische Entscheidungen käuflich geworden sind und die Verantwortlichen sich eher an den Wünschen zahlungskräftiger Lobbys als an den Interessen normaler Bürger orientieren.

Und das Schlimme ist: Dieses Gefühl täuscht nicht. Der frühere US-Präsident Jimmy Carter hat die Vereinigten Staaten einmal eine "Oligarchie mit unbegrenzter politischer Korruption“ genannt. So weit muss man für Deutschland nicht gehen. Die Verhältnisse unterscheiden sich schon noch von den amerikanischen, wo eine politische Karriere ohne reiche Gönner und Spender nahezu unmöglich ist. Aber ob begrenzt oder unbegrenzt: politische Korruption ist ein Übel, das die Grundfesten demokratischer Gesellschaften zerstört.

Korruption und Lobbyismus: Es geht um weit mehr als nur die Moral einzelner Abgeordneter

Wer dieses Übel überwinden will, muss allerdings über tiefer liegende Probleme reden als nur über die Moral bzw. Amoral einzelner Abgeordneter. Es ist schon bemerkenswert, dass die Lobbytätigkeit von Parlamentsmitgliedern zugunsten einzelner Unternehmen gesetzlich nicht verboten ist, - selbst wenn sich die Parlamentarier ihre Dienste bezahlen lassen. Begründet hat vor allem die CDU/CSU diese Gesetzeslage immer damit, dass Abgeordneten Nebentätigkeiten gestattet sein müssten, wenn das Parlament nicht nur aus Leuten bestehen soll, die vom Hörsaal in den Plenarsaal wechseln und von da dann einige Jahrzehnte später direkt in den Ruhestand hinübergleiten.

In vielen Berufen seien Pausen von vier oder acht Jahren eben kaum möglich, der Inhaber und Geschäftsführer eines Unternehmens etwa kann sich nicht einfach freistellen lassen. Wer auch Unternehmer im Parlament haben möchte, müsse ihnen daher das Recht einräumen, auch weiterhin unternehmerisch tätig zu sein.

Das stimmt, aber das Argument ist dennoch verlogen. Denn unternehmerische Tätigkeit und Lobbyismus, Nebeneinkünfte für eigene Leistungen und Schmiergelder für Gefälligkeiten lassen sich durchaus unterscheiden und könnten problemlos gesetzlich unterschiedlich behandelt werden. Wer es als Abgeordneter schafft, nebenbei weiter seine Softwarefirma oder seinen Handwerksbetrieb zu managen, verdient Respekt. Wer dagegen sein Mandat nutzt, dem eigenen Unternehmen öffentliche Aufträge oder besonders vorteilhafte Regeln zu verschaffen, hat im Parlament nichts zu suchen. Das gleiche gilt für Leute, die für Firmen arbeiten, deren ausdrücklicher Geschäftszweck die Beeinflussung der Politik im Interesse bestimmter Branchen oder Einzelunternehmen ist.

In der Politik können es Lobbyisten weit bringen - bestes Beispiel dafür: Jens Spahn

Aber genau diese wichtige Unterscheidung wird nicht gemacht. Daher können es Lobbyisten in der Politik ausgesprochen weit bringen. Ein prominentes Beispiel dafür ist just der heutige Gesundheitsminister. Selbiger war beispielsweise zwischen 2006 und 2010 an einer Lobbyagentur beteiligt, die schwerpunktmäßig für Unternehmen aus dem Pharma- und Medizinsektor arbeitete, unter anderem für die Versandapotheke DocMorris und einen Pharmagroßhändler. Gleichzeitig saß Spahn als führender Gesundheitspolitiker der Kanzlerpartei im Gesundheitsausschuss, in dem ganz zufällig zu jener Zeit die Liberalisierung des Apothekenmarktes debattiert und beschlossen wurde. Die genannten Kunden von Spahns Lobbyagentur waren offenbar zufrieden. Sie machte Gewinn, ein Viertel der Ausschüttungen floss in die Taschen des heutigen Gesundheitsministers. Alles legal!

Bis März 2015 war Jens Spahn außerdem Vorsitzender des "Beirats Gesundheit" einer gewissen "Gesellschaft zum Studium strukturpolitischer Fragen“, zu deren Mitgliedern unter anderem der Verband der Privaten Krankenversicherungen gehört. Anders als der Name nahelegt, widmet sich die Gesellschaft allerdings weniger dem Studium als der Einflussnahme auf wichtige Gesetzesvorhaben, und die für sie einzig interessanten Strukturen sind solche, in denen sich Unternehmen und Verbände mit Ausschussmitgliedern und Regierungspolitikern zusammenzubringen lassen. Das funktioniert natürlich besonders gut, wenn man verlässliche Politiker gleich selbst beschäftigt. Spahn ist da bei weitem nicht der einzige.

Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum die Union sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hat, in das nun nach langem Gezerre endlich beschlossene Lobbyregister auch die Pflicht zur Offenlegung dessen aufzunehmen, was die Öffentlichkeit eigentlich am meisten interessieren sollte: welche Unternehmens- und Verbandslobbyisten bestimmte Gesetze mitverfasst bzw. auf ihre Formulierung Einfluss genommen haben. Das zu wissen wäre natürlich ungleich brisanter als die bloße Auskunft darüber, wer so alles mit Lobbyistenausweis im Bundestag die Landschaft pflegt.

Bezahlt wird später: Undurchsichtige Geldgeschäfte gibt es nicht nur bei der Union

Dass Käuflichkeit noch nicht mal einen Karriereknick nach sich zieht, zeigt auch das Beispiel des Jungpolitikers Philip Amthor, der im letzten Sommer für ein dubioses US-Unternehmen lobbyiert hatte und für diese Dienste mit einem Direktorenposten, Aktienoptionen und teuren Reisen belohnt worden war. Unbeeindruckt von dieser Vorgeschichte beförderte die CDU Amthor jetzt dahin, wo bisher Angela Merkel stand: auf Platz 1 der Landesliste Mecklenburg-Vorpommern.

Auch wenn die lange Geschichte undurchsichtiger Geldgeschäfte seit Kohls schwarzen Kassen und der bayerischen Amigoaffäre nahelegt, Korruption und Käuflichkeit vor allem mit Unions-Politikern in Verbindung zu bringen, wäre das ungerecht. Denn solche Praktiken gibt es auch in anderen Parteien. Verbreitet ist vor allem eine noch elegantere Methode, aus Gefälligkeiten für einzelne Unternehmen oder Branchen einen persönlichen Vorteil zu ziehen: die Korruption nach dem Motto Bezahlt wird später.

Solche findet statt, wenn ein Politiker - meist sind es Minister oder Staatssekretäre - nach dem Ausscheiden aus seiner Funktion von just dem Unternehmen mit lukrativen Mandaten oder großzügigen Beraterhonoraren belohnt wird, für dessen Interessen er sich in seiner aktiven Zeit besonders hingebungsvoll eingesetzt hat. Dieses System erlebte seinen großen Durchbruch unter der Schröder-Fischer Regierung, aus der nicht nur Kanzler und Außenminister, sondern auch viele weitere Minister später in der Privatwirtschaft just in dem Bereich mit lukrativen Posten versorgt wurden, mit dem sie zuvor politisch zu tun hatten. Nachdem die Dämme einmal gebrochen waren, wurde diese Drehtür von der Politik in die Wirtschaft zu einem der wichtigsten Hebel interessenpolitischer Einflussnahme. Die Karenzzeitgesetze, die es mittlerweile gibt, behindern diese Praxis kaum.

Parteispenden: 9999 Euro für ein Dinner mit Spahn ohne Hintergedanken? Zweifelhaft!

Nicht unerwähnt bleiben dürfen, wenn es um käufliche Politik geht, natürlich auch die Parteispenden großer Unternehmen und sehr reicher Privatpersonen. Allein die BMW-Erben Quandt und Klatten haben zwischen 2000 und 2019 insgesamt 4,5 Millionen Euro an CDU und FDP überwiesen. Aus staatsbürgerlicher Verantwortung? Auch große Rüstungsfirmen oder die Autokonzerne sind regemäßige Spender, ebenso die Großbanken, die unmittelbar nach der letzten Finanzkrise auf einmal besonders großzügig wurden, so wie vielleicht demnächst die Pharmaindustrie.

Dass renditeorientierte Firmen Hunderttausende oder gar Millionen Euro zweckfrei an Parteien verschenken, kann ausgeschlossen werden. Es gibt also Absichten, und – wie das wiederholte Spenden belegt – offenkundig auch Erfolg. Der beginnt schon im Kleinen: dass die Unternehmer bei Jens Spahns berühmt gewordenem Spendendinner ihre 9999 Euro wirklich nur für das unverwechselbare Erlebnis aufgebracht haben, einmal mit dem Gesundheitsminister zu Abend zu essen – nunja, Zweifel wird man haben dürfen.

Das Ergebnis all solcher Einflussnahmen ist genau die Art von Politik, wie wir sie seit vielen Jahren kennen. Sehr lesenswert ist in diesem Zusammenhang eine Studie über politische Entscheidungen in Deutschland in den Jahren 1998 bis 2015. Sie weist nach, dass in allen Fällen, in denen die Meinung des unteren Zehntels der Bevölkerung deutlich von der des oberen Zehntels abwich, sich die Meinung des oberen Zehntels politisch durchgesetzt hat. Was Bürger mit niedrigem Einkommen wollen, hatte 1998 bis 2015 eine besonders geringe Wahrscheinlichkeit, realisiert zu werden, fassen die Autoren die Ergebnisse ihrer Untersuchung zusammen.

Käufliche Politik in Deutschland: Die Meinung des oberen Zehntels setzt sich durch

Das blieb natürlich auch nach 2015 so. Wer Beispiele möchte, denke an den mickrigen deutschen Mindestlohn, die ausbleibende gesetzliche Einschränkung von Leiharbeit und Befristungen, die Rettungsgelder für strauchelnde Banken oder eben das Setting der aktuellen Corona-Hilfen, wo nach Monaten des Lockdowns jetzt bei vielen kleinen Selbständigen auch noch Rückforderungen ins Haus flattern, während Konzerne mit Gewinn und Dividende sich über großzügige Unterstützungen der öffentlichen Hand freuen durften.

Es gab einmal eine kluge ökonomische Schule, die sich ordoliberal nannte und in den frühen Jahren der Bundesrepublik großes Ansehen genoss. Für sie stehen Namen wie Walter Eucken und Alexander Rüstow. Die ordoliberalen Ökonomen waren fest davon überzeugt, dass private Wirtschaftsmacht und Demokratie nicht miteinander vereinbar sind. Sie sahen daher eine der wichtigsten Aufgaben des Staates darin, durch angemessene Regeln und ein scharfes Kartellrecht die Entstehung wirtschaftlicher Machtpositionen zu verhindern. Denn nur so, warnte Rüstow, lasse sich die „heimliche wie öffentliche Einflussnahme mächtiger Interessengruppen auf Staat, Politik und öffentliche Meinung“ überwinden. Dabei falle es den Wirtschaftsvertretern besonders leicht, ihre Interessen durchzusetzen, wenn die öffentlichen Institutionen personell und finanziell schlecht ausgestattet seien. Die Ordoliberalen plädierten daher für eine Marktwirtschaft ohne übermächtige Konzerne und einen ressourcenstarken, handlungsfähigen Staat.

Lehre der Ordoliberalen: Missbrauch lässt sich nicht kontrollieren - deshalb muss Entstehung verhindert werden

Die Thesen der Ordoliberalen wurden von der Geschichte immer wieder bestätigt. Politisch beherzigt wurden sie nie. Aber genau da liegt die tiefere strukturelle Ursache für die erfolgreiche politische Einflussnahme wirtschaftlicher Interessengruppen.

Ja, Lobbytätigkeiten von Abgeordneten müssen endlich gesetzlich untersagt und entsprechend bestraft werden. Ein scheidender Politiker darf nicht rechtmäßig in just die Branche wechseln, für die er vorher administrative Verantwortung trug. Parteispenden von Unternehmen gehören verboten. Aber so wichtig all das ist: vor allem sollten wir die Lehren der Ordoliberalen endlich ernst nehmen. Der Missbrauch privater Wirtschaftsmacht lässt sich nicht kontrollieren. Deshalb muss man ihre Entstehung verhindern. Aktuell tut die Politik – gerade durch die Corona-Maßnahmen – leider das genaue Gegenteil.

Focus,