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Die EU verkommt zu einer Freihandelszone mit Parlament

Im Wortlaut,

 

Von Fabio de Masi, für DIE LINKE Mitglied des Europäischen Parlaments

 

Camerons Vision von Europa ist eine Freihandelszone mit Parlament. So wird Europa scheitern, sagt der Linke-Europaabgeordnete Fabio de Masi - und es ist nicht, was die Briten wollen. »David Cameron will die EU zu einer Freihandelszone mit Parlament machen«

Die EU befindet sich im Stresstest. Das Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU ist dabei nur ein Symptom für das kranke Europa. Wer dieser Tage EU sagt, denkt Krise. Die Hütte brennt. Und das hat Gründe.

Die europäische Einigung versprach einst Frieden, Wohlstand und soziale Sicherheit. Aber die EU mutierte zu einem Binnenmarkt, der permanenten Wettbewerb erzwingt und die Demokratie zerstört. Nicht die Globalisierung, sondern das EU-Recht und falsche Politik zwingen uns zu Privatisierung, Steuer- und Lohndumping sowie Investitionsstau. Die EU verrät die europäische Idee und verkommt zu einer Freihandelszone mit Parlament.

»Die Briten fürchten sozialen Abstieg. Paradox: Cameron will mehr von jener EU, die viele Briten nicht wollen.«

Die Meinungsforscher sagen: Das ist nicht, was die Mehrheit jener Briten will, die wütend auf die EU sind. Die Briten bewegen Zuwanderung, Lohndumping, der Mangel an bezahlbarem Wohnraum und der Verfall des Gesundheitswesens. Das ist zumindest das Ergebnis von Analysen des Centre for European Reform sowie der Forschungsabteilung der Bank of America/Merrill Lynch.

Im EU-Binnenmarkt müssen Beschäftigte um niedrige Löhne konkurrieren, weil etwa ein ausländischer Bauarbeiter nicht nach dem Tarif vor Ort, sondern der Herkunft des Unternehmens entlohnt wird. Konzerne spielen hingegen EU-Staaten im Wettbewerb um die niedrigsten Steuern gegeneinander aus. Viele Menschen lehnen zu Recht das EU-US Handels- und Investitionsabkommen TTIP ab. Sie fürchten einen Abbau von Verbraucherschutz, Arbeitnehmerrechten oder Demokratie. Aber was mit TTIP droht, ist innerhalb der EU häufig bereits Realität: Der Wettbewerb um die niedrigsten Standards. So schafft sich Europa ab.

Cameron will nun ausgerechnet mehr von jener EU, die viele Briten nicht mehr wollen. Was nützt der EU die Mitgliedschaft von Großbritannien, wenn die EU daran zerbricht? Denn nicht nur auf der Insel regt sich der Unmut gegen eine EU, die zunehmend als Bedrohung von Wohlstand und sozialer Sicherheit empfunden wird. Südeuropa, Polen, Frankreich – überall kracht es.

Die von Cameron geforderten Sozialkürzungen sind darauf gerichtet, die Löhne im Vereinigten Königreich zu drücken.

Der britische Premier will mit einer Einschränkung von Sozialleistungen für EU-Ausländer beim Volk punkten; vollen Anspruch auf Sozialleistungen soll es erst nach vier Jahren Arbeit geben. Richtig ist: Der Sozialstaat wird aus Arbeit finanziert. Aber Großbritannien will weiter Arbeitskräfte abwerben. Die Sozialkürzungen sind daher vor allem darauf gerichtet, die Löhne im Vereinigten Königreich zu drücken. Denn wer kaum Ansprüche hat, dem droht der "Arbeiterstrich". Freizügigkeit ohne Sozialstaat hat mit Freiheit nichts zu tun und nützt nur den Unternehmen, nicht den kleinen Leuten.

Die Sozialbremse ist Volksverdummung: Die EU-Staaten verlieren jährlich hunderte Milliarden Euro durch Steuerhinterziehung und -vermeidung. Cameron macht faule Steuerdeals mit Google und führende Investmentbanken zahlen im Vereinigten Königreich kaum Steuern. Das sind die Sozialschmarotzer, die den Wohlstand der Briten bedrohen.

Cameron will Narrenfreiheit für die City of London

Cameron will Narrenfreiheit für den Finanzplatz City of London: er setzt sich für ein spezielles Einspruchsrecht gegen Banken- und Finanzmarktregulierungen ein.

Bereits jetzt betreibt Cameron eine (Re-)Liberalisierung der Finanzmärkte - die EU soll "britischer" werden.

Zudem konnte Großbritannien mit dem einstigem Finanzlobbyisten und britischen EU-Finanzmarktkommissar, Lord Jonathan Hill, bereits die Kapitalmarktunion durchsetzen. Sie ist das Herzstück der "britischen" EU. Das Finanzcasino soll wieder öffnen: Die EU will etwa die Verbriefung von Schrottkrediten, die Risiken verschleiern und wie eine heiße Kartoffel weitergereicht werden, wieder fördern. Solche Verbriefungen spielten bei der Immobilienkrise in den USA eine erhebliche Rolle.

Dabei können regionale Banken die vielen mittelständischen Unternehmen in der EU besser und günstiger finanzieren als anonyme Kapitalmärkte und saudische Scheichs, die ihre Petrodollar nach Großbritannien schicken. Dafür müssen allerdings die faulen Kredite der Banken abgeschrieben bzw. ausgemistet und die dumme Kürzungspolitik beendet werden, die Investitionen und Kreditnachfrage hemmt. Anonyme Investoren erwarten hohe Renditen. Sie kennen die regionalen Märkte oder die unterschiedlichen Rechtsordnungen etwa bei Insolvenzen von Unternehmen nicht. Die Kapitalmärkte folgen daher dem Herdentrieb. Sie überhitzen Märkte und ziehen ihr Geld auch schnell wieder ab, wenn sie nervös werden. Das ficht Cameron nicht an: Denn Großbritannien hat kaum noch Industrie außer eben der "Finanzindustrie", die oft mehr Werte zerstört als schafft. Cameron will daher das Geld in der City quer durch Europa schicken.

Die Krönung von Camerons Europapolitik ist aber das vielleicht wichtigste Projekt der aktuellen EU-Kommission: Better Regulation. Diese neue Gesetzgebungstechnik wird derzeit zwischen den drei EU-Institutionen verhandelt und weist Parallelen zu den Regulierungsräten im Handels- und Investitionsabkommen mit den USA (TTIP) auf.

Better Regulation ist ein Gesetzes-TÜV für Lobbyisten, der mit Bürokratieabbau getarnt wird. Gesetze sollen von vermeintlich unabhängigen Technokraten ständig überprüft werden, ob sie den Wettbewerb hemmen und für die Unternehmen mit Kosten verbunden sind. Dies beträfe etwa die Regulierung der Finanzmärkte oder die Richtlinie über Höchstarbeitszeiten. Die Experten könnten dann die Dokumentation von Arbeitszeiten als zu teuer abtun. Damit lassen sich dann Mindestlöhne umgehen, weil viel mehr gearbeitet wird als im Vertrag steht.

Vor kurzem zog die EU-Kommission bereits im Rahmen von REFIT (Regulatory Fitness and Performance) die Reform der Mutterschutzrichtlinie zurück und auch die Anti-Krebsrichtlinie liegt auf Eis. Dabei sterben jährlich 100 000 Menschen in der EU an berufsbedingten Krebserkrankungen. Aber stört die Briten oder Europäer wirklich der Mutterschutz, die Krebsprävention oder die Begrenzung der Arbeitszeiten?

Das Referendum ist eine Chance. Wir brauchen Volksabstimmungen über die EU-Verträge – auch in Deutschland.

Ein "Briten-Deal" ist wahrscheinlich nicht ohne Zustimmung des Deutschen Bundestages zu haben. Denn Cameron verlangt rechtsverbindliche Zusagen der Staats- und Regierungschefs. Dies erfordert eine Änderung der EU-Verträge. Das ist aber bis zum britischen Referendum unmöglich. Auch ein Beschluss des Europäischen Rates über eine zukünftige Vertragsänderung unterliegt dem Parlamentsvorbehalt und in Irland einem Referendum.

Die Bundesregierung hat also eine bequeme Verhandlungsposition. Doch sie will den Briten-Deal als Ausrede nutzen, um mehr vom falschen Europa durchzusetzen. Die Kanzlerin wird frei nach Margaret Thatcher behaupten: "There is no alternative!" Andernfalls würde die EU zerbrechen. Aber wahr ist: Eine EU nach dem Geschmack Camerons wird ohnehin scheitern.

Der neue Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn meinte zu Recht, es wäre ein Fehler, Cameron einen Blankoscheck zu erteilen. Warum solle er dessen Ja-Kampagne für einen Verbleib der Briten in der EU unterstützen, wenn der Preis eine noch arbeitnehmerfeindlichere EU ist?

Dabei böte das britische Referendum auch im Rest der EU die Chance, mehr Demokratie zu wagen. Die Niederländer etwa werden in einer Volksabstimmung über das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine befinden. Wenn die Forderungen Camerons nach Änderung der Verträge der EU-Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt werden würden, müsste es sich Cameron ernsthaft überlegen, ob er dieses Risiko eingeht. Neue demokratische und soziale EU-Verträge und Volksabstimmungen in allen EU-Mitgliedsstaaten hierüber – auch in Deutschland –  sind überfällig. Dafür müsste das Grundgesetz geändert werden.

Aber ist die Krise der EU kein denkbar schlechter Zeitpunkt für Experimente? Was ist, wenn auch die Polen nicht mitziehen oder sich gegen einen Verbleib in der EU aussprechen? Nun, was wäre daran eigentlich so schlimm? Eine schlankere EU mit demokratischer und sozialer Verfassung hat mehr Zukunft als ein Staatenverbund, der die europäische Idee verrät. Die EU muss sich ändern, um zu bleiben.

Tagesspiegel Causa, 5. Februar 2016