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Diätenbezieher debattierten Mindestlohn

Im Wortlaut,

Erneute Bundestagsdebatte auf Antrag der Linken - Betroffene verfolgten Schlagabtausch

Nachdem am 1. Juni in namentlicher Abstimmung der Antrag der Linksfraktion für einen gesetzlichen Mindestlohn von der Mehrheit des Bundestages abgelehnt worden war, haben die Linken gestern das Thema erneut auf die Tagesordnung des Parlaments gehievt. Diesmal waren auf ihre Einladung auch Betroffene im Saal.
Udo Raabe wirkt leicht ernüchtert, als er die Besuchertribüne im Reichstag verlässt. Ein Kollege des Berliner Briefzustellers und Betriebsrates in der PIN AG will bei ihm erst mal eine Zigarette schlauchen. Dabei haben die beiden - wie auch die übrigen Mindestlohnempfänger, die auf Einladung der Linksfraktion die Debatte im Hohen Hause verfolgten - ziemlich starken Tobak hinter sich. »Eine Menge gequirlte Scheiße«, flüchtet sich Raabe im Foyer zunächst in die Fäkalsprache. Der 40-Jährige, der mit 1020 Euro netto einschließlich aller Prämien nach Hause geht, hat aufmerksam zugehört, bisweilen genickt und bisweilen den Kopf geschüttelt.

Die Überfälligkeit eines Mindestlohnes in Deutschland steht für Raabe fest, und auch die acht Euro pro Stunde, die die Linke fordert, hält er für völlig in Ordnung. Zumal der Betriebsrat genug Kollegen kennt, die noch weniger als er verdienen. »Hätte ich nicht eine Lebensgefährtin, die Arbeit hat, müsste ich bestimmt auch noch Hartz IV in Anspruch nehmen«, sagt Raabe leise. Derlei hält er vermutlich genauso für einen Skandal wie Oskar Lafontaine, der im Plenum den neuerlichen Vorstoß der Linken begründete.

Der Ko-Fraktionschef hatte von fünf Millionen Betroffenen in Deutschland geredet, für die eine gesetztliche Mindestlohnregelung nötig sei, einen Lohnzettel mit einem Stundenlohn von 5,19 Euro hochgehalten und auf europäische Nachbarn verwiesen, die im Unterschied zur Mehrheit im Bundestag Mindestlöhne nicht für Teufelszeug halten. Laut wurde es, als Lafontaine vorschlug, die Abgeordnetendiäten an Mindestlöhne zu koppeln. Doch während auf der Tribüne auch Raabe feixte, dominierte im Plenarsaal Hohngelächter.

Es gab allerdings auch einen Moment Totenstille, als Lafontaine vom Bundestagspräsidenten einen Rüffel erhielt. Nachdem der Saarländer festgestellt hatte, dass mit Beschlüssen über Mehrwertsteuererhöhung, Rente mit 67 oder Hartz IV gegen die Mehrheit des Volkes abgestimmt werde und darob von Demokratie keine Rede sein könne, erklärte Norbert Lammert: Der Linksfraktionschef habe jedes Recht, jede Mehrheitsentscheidung zu kritisieren. Seine Behauptung von Demokratiefeindlichkeit aber sei mit dem Selbstverständnis des Hauses über Mehrheiten nicht vereinbar.

Udo Raabe allerdings hat sein eigenes Selbstverständnis von Mehrheiten. »Würden die drei linken Parteien sich zusammentun, bekäme der Mindestlohn eine Mehrheit«, ist er sich sicher. Der Briefzusteller hat Indizien für womöglichen Schulterschluss in der Mindestlohnfrage zwischen Linken, SPD und Bündnisgrünen ausgemacht. Im Aufschrei der Grünen Brigitte Pothmer, die erklärte, in diesem Lande herrsche fieses Lohndumping. Oder im Bekenntnis von Andrea Nahles (SPD) zu branchenspezifischem Mindestlohn, mit dem sie das Links-Konzept, »Herr Kollege Lafontaine, lieber Oskar«, in die populistische Ecke verwies, aber zähes Ringen in der Großen Koalition ankündigte. »Da muss die SPD eben auf ihren Koalitionspartner pfeifen«, sagt Raabe. »Die können doch nicht nur zum Machterhalt Dinge mitbeschließen, die schädlich sind.«

Können sie, sind indes die Grünen sicher. Pothmer krtitisierte nicht nur unter Beifall der Linken Andrea Nahles, weil deren für September angekündigtes Konzept für branchenspezifischen Mindestlohn immer noch nicht vorliegt. Sie malte das Szenario für künftiges Koalitionsgerangel zum Niedriglohn: Die Union wolle Kombi-, die SPD Mindestlohn, und das zusammenzuführen, werde zu ähnlichem Schrott führen, wie bei der Gesundheitsreform.

Dass Union wie FDP in Sachen Mindestlohn keine Verbündeten sind, wusste Raabe vermutlich schon vor seinem ersten Besuch im Reichstag. Dass er darin bestärkt das Hohe Haus verließ, dafür sorgten unter anderem FDP-Generalsekretär Dirk Niebel und der Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Soziales, Gerald Weiß (CDU), nach besten Kräften. Dennoch sagt Udo Raabe, die Visite im Bundestag sei informativ und nützlich gewesen - »Ich weiß jetzt, wo die Parteien stehen«.

Von Gabriele Oertel

Neues Deutschland, 21. Oktober 2006