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Deutsche unter Vorbehalt

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,

Sevim Dagdelen kritisiert den Koalitionskompromiss zum Doppelpass und fordert die generelle Akzeptanz von Mehrstaatigkeit

Sevim Dagdelen ist migrationspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag.

 

In der letzten Woche hatten viele Organisationen und Verbände den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel in einem offenen Brief aufgefordert, gegenüber den Unionsparteien an der vollständigen Abschaffung der Optionspflicht im Staatsangehörigkeitsgesetz festzuhalten und Wort zu halten. Doch dieser Appell blieb ohne Erfolg. Zwar ist davon auszugehen, dass nach der geplanten Regelung nahezu alle sogenannten Optionskinder ihre beiden Pässe behalten können; schließlich waren 2013 gerade einmal drei Prozent der Optionspflichtigen im Ausland gemeldet. Trotzdem ist die faule Einigung wegen ihrer diskriminierenden und ausgrenzenden Wirkung problematisch. Faktisch gibt es nach wie vor Deutsche zweiter Klasse, denen unter bestimmten Bedingungen nach mehr als zwei Jahrzehnten der Verlust ihrer deutschen Staatsangehörigkeit droht. An zehntausenden Optionsverfahren - ab 2018 etwa 40 000 im Jahr - soll festgehalten werden, nur um wenige Fälle doppelter Staatsangehörigkeit verhindern zu können.

Problematisch ist auch die Ungleichbehandlung, bei einigen die doppelte Staatsangehörigkeit problemlos hinzunehmen, bei anderen aber nicht. Kinder mit einer deutsch-EU- oder deutsch-schweizerischen Doppelstaatsangehörigkeit sind künftig generell von der Optionspflicht ausgenommen. Für alle anderen - das zielt vorwiegend auf deutsche Kinder türkischer Eltern - gilt weiter die Optionspflicht. Sie bleiben Deutsche unter Vorbehalt. Das ist inakzeptabel und verfassungsrechtlich unhaltbar und zeigt, dass man kein Interesse an einem fortschrittlichen Staatsbürgerschaftsrecht hat.

Die SPD hätte mit Bezug auf den Wortlaut der Koalitionsvereinbarung auf der vollständigen Abschaffung der ausgrenzenden, bürokratischen und verfassungswidrigen Optionsregelung bestehen müssen. Sie hatte sich schon die generelle Akzeptanz der Mehrstaatigkeit von der Union abhandeln lassen - entgegen ihren Wahlversprechen. Dabei ist Mehrstaatigkeit in der Einbürgerungspraxis in Deutschland seit Jahren der Regelfall und nicht die Ausnahme, wie im Gesetz noch vorgesehen, doch ist sie höchst ungleich verteilt und stellt insbesondere für die große Gruppe der türkischen Staatsangehörigen eine faktische Diskriminierung dar. 2011 durften sie nur zu 26 Prozent ihre bisherige Staatsangehörigkeit behalten. Bei anderen Staatsangehörigen waren es 59 Prozent. In Bayern war dieses Missverhältnis noch drastischer: vier zu 64,5 Prozent! Gerade deshalb fühlen sich besonders türkischsprachige Migranten wieder betrogen und ausgegrenzt.

Das erbärmliche Koalitionsgeschacher um die Optionspflicht lenkt davon ab, dass umfassende Einbürgerungserleichterungen erforderlich wären, um mehr Migrantinnen und Migranten gleiche Rechte zu verschaffen. Bereits 1990 legte das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber in einem Grundsatzurteil nahe, durch Einbürgerungserleichterungen die demokratische Lücke zu schließen, die Millionen dauerhaft hier lebende Menschen ausländischer Staatsangehörigkeit von allen Ebenen der politischen Mitbestimmung per Wahl ausgrenzt. Neben Erleichterungen gab es zusätzliche Hürden durch Gesetzesverschärfungen unter Union, SPD und Grünen, etwa die deutliche Erhöhung der Einbürgerungsgebühren und Verschärfungen bei nachzuweisenden Sprachkenntnissen. In den nächsten Jahren wird es auch keine Änderung am restriktiven Einbürgerungsrecht geben. Dabei ist es wichtig, Einbürgerungen nicht vom sozialen Status, dem Geldbeutel oder überhöhten Sprachnachweisen abhängig zu machen. Wie in vielen anderen Ländern Europas wollen wir LINKE, dass eine Einbürgerung im Grundsatz nach fünfjährigem Aufenthalt zu geringen Gebühren möglich ist. Abschreckende Tests der Gesinnung oder Staatsbürgerkunde lehnen wir ab. Die deutsche Staatsangehörigkeit sollen auch alle in Deutschland geborenen Kinder dauerhaft hier lebender ausländischer Staatsangehöriger erhalten. Der Zwang zur Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit ist für viele Menschen das Haupthindernis bei der Einbürgerung. Deshalb fordern wir die generelle Akzeptanz von Mehrstaatigkeit.

Eine gute Integrationspolitik muss nicht nur gleiche Rechte schaffen. Sie muss vor allem gleiche soziale Rechte und Sicherheit schaffen angesichts der infolge einer jahrzehntelangen Ausgrenzung dringenden sozialen Probleme von Migrantinnen und Migranten auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Hierzu hatte die SPD vor der Wahl auch viel versprochen. Doch sie ist - wie befürchtet - mal wieder wortbrüchig.

Neues Deutschland, 9. April 2014