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Der Kampf um die Ruhezeit

Im Wortlaut von Jutta Krellmann,

Von Jutta Krellmann, gewerkschaftspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag

 

Die Digitalisierung unserer Gesellschaft und damit auch unserer Arbeitswelt hat auch den Kampf um unsere Arbeitszeiten neu entfacht, in dem sich aktuell immer mehr Politikerinnen und Politiker zu Wort melden. Die Debatte um Industrie 4.0 und der Wunsch, unsere Arbeitszeiten an die "just-in-time"-Produktion und Dienstleistung anzupassen und damit gewinnbringender zu nutzen, lässt Arbeitgeber nach Änderungen an den angeblich starren Arbeitszeiten schreien. Diesem Ruf folgend plant Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) mehr gesetzlichen Spielraum bei flexiblen Arbeitszeiten. Am heutigen Dienstag will sie die Chefs der drei größten deutschen Gewerkschaften überzeugen, das Arbeitszeitgesetz weiter zu lockern. Was genau da aber eigentlich noch "gelockert" werden soll, darüber schweigt sich das Arbeitsministerium aus.

Gesetzliche Arbeitszeiten: mehr Löcher als Käse

Ein Blick in das bestehende Arbeitszeitgesetz zeigt auch, warum. Denn kaum ein anderes Gesetz beinhaltet so viele Ausnahmen von der Regel. Oder anders gesagt: Kein anderes Schutzgesetz wurde in den letzten 20 Jahren derart flexibilisiert. Eigentlich gilt eine Höchstarbeitszeit von acht Stunden pro Tag, maximal 48 Stunden in der Woche. Davon kann aber jetzt schon abgewichen werden, etwa für Bereitschaftsdienste. Auch die vorgeschriebene Ruhezeit zwischen Arbeitsende und erneuter Arbeitsaufnahme kann sich von elf auf neun Stunden verringern, wenn auch nur in bestimmten Branchen und unter Auflagen eines Ausgleichs. An Sonn- und Feiertagen zu arbeiten ist eigentlich untersagt, breitet sich jedoch immer weiter aus. Die Folge: Immer mehr Menschen arbeiten jetzt schon zusätzlich spät abends, nachts oder am Wochenende, für viele ist der regulierte "nine-to-five"-Job längst keine Realität mehr. Die Wirkung auf die Beschäftigten lässt sich seit Jahren regelmäßig wahlweise am Anstieg unbezahlter Überstunden oder psychischer Belastungen ablesen. Das Arbeitszeitgesetz bietet uns folglich schon jetzt genügend Möglichkeiten, flexibel bis zur Gesundheitsgefährdung und darüber hinaus zu arbeiten. Dennoch geht das Arbeitsministerin Andrea Nahles offenbar nicht weit genug. Derzeit bieten die Obergrenzen bei täglicher Höchstarbeitszeit, Ruhezeit und Sonntagsarbeit immerhin für das Gros der Beschäftigten noch einen Schutzschirm. Der soll jetzt aber noch durchlässiger werden.

Weniger Ruhezeit dank Tarifvertrag?

Die Sozialdemokratin Nahles plant, von gesetzlichen Schutzbestimmungen per Tarifvertrag stärker als bisher abweichen zu können. Dafür braucht sie aber die Gewerkschaften. Im Gespräch sind offenbar vor allem die Ruhezeiten. Eine Reduzierung auf neun Stunden zusammenhängender Ruhezeit ohne irgendeinen Ausgleich könnte dann künftig jeder Arbeitgeber in Tarifverhandlungen verlangen – wenn Nahles sich durchsetzt. Die ersten Reaktionen lassen erahnen, was da noch auf die Beschäftigten zukommen könnte. Schon jetzt rumort es bei den Gewerkschaften, die ihre teils hart erkämpften Tarifverträge auf keinen Fall als neue Umgehungsstrategie von gesetzlichen Schutzrechten missbraucht sehen wollen. Auch diverse Arbeitsmediziner und -medizinerinnen sowie der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages warnen vor einer massiven Zunahme von gesundheitlichen Gefahren für Beschäftigte, die eine Verringerung oder gar Fragmentierung der vorgeschriebenen Ruhezeiten zu Folge hätte.

Für ein Recht auf Ruhe

Arbeitsministerin Nahles wäre gut beraten, sich darauf zu besinnen, worin ihre Aufgabe eigentlich besteht: Sie soll den gesetzlichen Rahmen zum Schutz von Beschäftigten sichern und gegebenenfalls ausbauen. Doch auf diesem Ohr ist die schwarz-rote Bundesregierung erfahrungsgemäß taub. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) höchstselbst hat vor zwei Jahren der Forderung nach einer Anti-Stress-Verordnung eine Absage erteilt, und ein gesetzlich verbrieftes "Recht auf Ruhe" ist auch nicht in Sicht. Das macht deutlich, dass die Debatte um unsere Arbeitszeit bisher viel zu stark von den Wirtschaftsverbänden dominiert wird. Sie nutzen berechtigte Forderungen von Beschäftigten nach flexibleren Arbeitszeiten für eine Ausweitung ihrer Zugriffsrechte auf die Arbeitskraft ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dabei lassen sie bewusst außen vor, dass der Kampf um unsere Arbeitszeiten eben auch ein Kampf um unsere Ruhezeiten ist. Denn wenn die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit durch die Digitalisierung immer unschärfer wird, steigt das Interesse der Beschäftigten an gesetzlich abgesicherten Ruhezeiten. Zeiten, in der der Chef nicht anruft oder der Kollege keine E-Mail schreibt. Zeiten, in denen sie im Urlaub mit guten Gewissen den Laptop zu Hause lassen oder sich trotz unvollendeter Präsentation entspannt schlafen legen. Genau diesem steigenden Bedürfnis wollen Arbeitgeberverbände schon jetzt einen Riegel vorschieben. Bevor der Mehrheit der Beschäftigten überhaupt erst bewusst wird, wie wertvoll eigentlich ihre Ruhezeiten sind, haben sich Arbeitgeber längst ihr Zugriffsrecht auf bisher zeitliche No-Go-Areas ihrer Beschäftigten gesichert. Das nicht zuzulassen, ist jetzt die Aufgabe von Gewerkschaften und nicht zuletzt von Bundesarbeitsministerin Nahles. Ob beide Adressaten das verstanden haben und der Forderung nach Reduzierung oder Fragmentierung der Ruhezeiten eine Absage erteilen, bleibt abzuwarten.


Frankfurter Rundschau, 30. August 2016