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"Der Geist des Tahrir-Platzes ist lebendig"

Interview der Woche von Wolfgang Gehrcke,

Wolfgang Gehrcke, außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, über den arabischen Frühling, den Prozess gegen Mubarak, die Situation in Syrien und Palästina sowie die Frage, ob die UNO in ihrer gegenwärtigen Verfassung den aktuellen Krisen gewachsen ist


In Kairo hat der Prozess gegen Ägyptens Ex-Präsident Mubarak, seine zwei Söhne sowie den ehemaligen Innenminister und sechs frühere leitende Mitarbeiter seines Ministeriums begonnen. Wie bewerten Sie, dass dieser Prozess überhaupt stattfindet?


Wolfgang Gehrcke: Auch und gerade Revolutionen müssen sich durch Rechtsstaatlichkeit ausdrücken. Mubarak und sein Clan gehören vor Gericht und eine öffentliche Verhandlung, die Aufklärung über Betrug, schamlose Bereicherung und den Repressionsapparat bringt, ist für die weitere Geschichte Ägyptens sehr wichtig.   Mubarak droht die Todesstrafe. Amnesty International mahnte bereits vor Prozessbeginn ein faires Verfahren an. Gleichzeitig geht der übergangsweise regierende Militärrat gewaltsam gegen friedliche Proteste auf dem Tahrir Platz vor. Sie waren kürzlich in Kairo. Was ist von den Hoffnungen des arabischen Frühlings geblieben?


Ich bin grundsätzlich gegen die Todesstrafe und hoffe, dass die Todesstrafe in Ägypten wie in allen anderen Ländern möglichst rasch abgeschafft wird. Der Militärapparat in Ägypten versucht, die Macht in seinem Sinne zu vererben. Das heißt, eine wirkliche Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse soll verhindert werden. Aber: Der Geist des Tahrir-Platzes ist nach wie vor lebendig. Er hat eine breite politische, demokratische Bewegung ins Leben gerufen. Auch die Linke Ägyptens konnte auf die legale politische Bühne zurückkehren.   In Syrien setzt das Regime von Präsident Baschar al-Assad Panzer gegen die Opposition ein, um sich an der Macht zu halten. Sie fordern vom UN-Sicherheitsrat, eine Gutachterkommission zu entsenden. Mit welchem Ziel?
   Wer Panzer und offensive Gewalt gegen die Bevölkerung einsetzt, kann nicht für die Bevölkerung sprechen. Das heißt auf der anderen Seite aber nicht, dass die "Aufbegehrenden" unbedingt Demokraten sind. Selbstverständlich sind auch bei den Protesten in Syrien Demokraten auf der Straße – um aber nicht weiter auf Mutmaßungen angewiesen zu sein, ist es wichtig, dass anerkannte internationale Persönlichkeiten sich und uns ein Bild über die Lage machen können. Ich denke da unter anderem an den ehemaligen russischen Ministerpräsidenten Primakow und an den südafrikanischen Staatsmann Mbeki wie auch an Menschenrechtler aus lateinamerikanischen Ländern.   Mubarak hat Anfang des Jahres auf sein Volk schießen lassen. Heute sitzt er auf der Anklagebank. Was erwarten Sie für Syrien?


In Syrien muss ein demokratischer Dialog eine Chance bekommen. Im Unterschied zu den meisten arabischen Ländern ist Syrien ein säkularer Staat, gibt es in Syrien durchaus unterschiedliche Parteien und eine breite wissenschaftlich gebildete Universitätsszene. Syrien hat Millionen Flüchtlinge des Irak-Krieges wie auch Palästinenserinnen und Palästinenser aufgenommen. Das darf nicht verschwiegen werden. Eine Demokratisierung des Landes kann diese positiven Momente bestärken.   Ist die UNO mit ihrem wohl wichtigsten Gremium, dem Sicherheitsrat, den aktuellen Krisen überhaupt noch gewachsen? Oder zeigen nicht zuletzt die Veränderungen im arabischen Raum, dass eine grundsätzliche Reform der Weltorganisation fällig ist?   
Die UNO ist mit Sicherheit den Anforderungen nicht gewachsen. DIE LINKE schreibt deshalb in ihrem Programmentwurf, dass die UNO auf ihre eigene Charta zurückgeführt werden muss. Vieles, was der Weltsicherheitsrat entschieden hat, entspricht nicht der Charta – ich denke da an die Afghanistan-Entscheidung und an Libyen. Eine grundsätzliche Reform inklusive mehr Rechte für die Vollversammlung ist lange überfällig.   Präsident Mahmoud Abbas hat gerade nochmals betont, dass seine Regierung auf der UN-Vollversammlung Anfang September über eine Vollmitgliedschaft des Palästinenserstaates abstimmen lassen will. Wie soll sich die Bundesrepublik bei der Abstimmung verhalten?
   Führende Repräsentanten der Palästinenser denken erneut darüber nach, welcher Schritt am geeignetsten sei, einen eigenen palästinensischen Staat zu gründen. Alle Voraussetzungen für einen palästinensischen Staat sind gegeben. Die Bundesregierung muss endlich nicht nur von der Zweistaatenlösung reden, sondern diese auch in der UNO befördern. Wenn es einen Antrag geben sollte, muss Deutschland aus meiner Sicht zustimmen.   Am 30. Juli haben Medienberichten zufolge in Israel 150.000 Menschen – allein in Tel Aviv 70.000 – gegen hohe Mieten und soziale Ungerechtigkeiten protestiert. Die Regierung Netanjahu steht stark unter Druck. Welche Auswirkungen könnte eine Regierungskrise in Israel auf die ohnehin schon angespannte Situation im Nahen Osten haben?


In vielen Debatten mit Freundinnen und Freunden in Israel habe ich immer vertreten, dass aus meiner Sicht die israelische Linke sich in zwei Feldern aktiver bewegen muss: der Kampf um den Frieden und der Kampf um soziale Rechte und Gerechtigkeit. Das schließt die tatsächliche Gleichberechtigung aller Bürgerinnen und Bürger Israels ein. Bei meinem letzten Israelbesuch habe ich an einer solchen Demonstration in Tel Aviv teilgenommen, im Februar waren es 15.000 und es freut mich sehr, dass inzwischen weit über 100.000 Menschen diese Forderungen aufgenommen haben.
 Die eigentliche Krise in Israel ist diese Regierung, sind Politiker wie Netanjahu, Liebermann und ähnliche Couleur.

linksfraktion, 9. August 2011